[Sozialforum Hamburg] 15.08.2005: Ein Jahr Montagsdemos in Hamburg

Am Montag, 15.08.2005 wird die Hamburger Montagsdemo ein Jahr alt.

Seit fest stand, dass ein neues ‚Sozial’gesetz in Kraft treten soll (Hartz IV), stand auch für Arbeitende, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger fest, dass diese Reform nicht durchkommen darf. Deshalb gingen sie auf die Straße, um dieses Gesetz zu verhindern.

Am 6. August 2004 fand deshalb die erste Montagsdemonstration in Hamburg statt. Damals riefen auch noch Gewerkschaften und verschiedenen linke Organisationen dazu auf.

„Weg mit Hartz IV, darum sind wir hier!”, war die Parole und Reaktion der Montagsdemonstranten und ist auch heute noch eine der Leitparolen in Hamburg und an die 100 Städten in Deutschland.

Heute, ein Jahr später, sind wir nicht mehr so viele wie damals. Trotzdem machen wir weiter; wir sind ein beständiger Kreis von Demonstranten, die sich demokratisch, antifaschistisch und überparteilich selbst organisieren, finanzieren und jede Menge interessanter politischer Themen am offenen Mikrofon diskutieren. Da werden auch mal Theaterstückchen vorgetragen, Gedichte und Glossen. Nicht zu vergessen die tolle Musik von ‚pepperoni’ und Peter Gutzeit - wenn der richtige Ton getroffen wird, kann sich die Auftaktkundgebung vor Saturn in der Mönckebergstraße auf über 70 Leute erweitern... Die Passanten, an denen die wöchentliche Demonstration zum Gänsemarkt vorbeizieht, zeigen durchweg Sympathie - in erster Linie in kurzen Gesprächen, wenn Flugblätter an sie verteilt werden, und durch Geldspenden.

Nachdem Schröder das Handtuch warf und sein Berater und Namensgeber des Sozialkahlschlagsgesetzes, Hartz, von der VW-Konzernsspitze wegen der Bestechungsaffäre abtreten musste, fühlt sich die Montagsdemo nur bestätigt - als Hefe in der Gärung, erst recht jetzt im Wahlkampf! Im Gegensatz zu leeren Versprechungen mancher Politiker steht die Ernsthaftigkeit dieser Bewegung außer Frage.

Am 15. August feiern wir unser einjähriges Bestehen, mit einem bunten Programm, auch mit Highlights aus den letzten Monaten. Ort und Zeit wie jede Woche: Montag, 18.00, vor Saturn in der Mönckebergstraße! --

*Montagsdemo Hamburg* jeden Montag, 18.00 Uhr vor Saturn/Mönckebergstrasse; <http://www.modemo.org>

Die neue Wut

Peter Nowak 29.07.2005

Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung

zeigt, dass diese womöglich mehr bewirkte, als man gemeinhin glaubte.
Fast ein Jahr ist es her, als von Magdeburg aus die Montagsdemonstration gegen Hartz IV begannen. Bald zogen in fast allen ostdeutschen Städten immer zu Wochenbeginn Tausende durch die Straßen und forderten "Weg mit Hartz IV". Die Aufmerksamkeit der Medien war ihnen im Sommerloch gewiss. Im Herbst allerdings ging die Montagsdemonstrationsbewegung schon ihrem Ende entgegen. Eine kurze Massenerregung ohne große Folge, schlussfolgerten viele. Nicht mal den Begriff soziale Bewegung wollten Bewegungsforscher den Montagsdemonstrationen zugestehen.

Für den Dokumentarfilmemacher Martin Kessler waren diese Proteste nicht so erfolglos. Im Gegenteil. "Sie haben mit zu den Neuwahlen und den Aufstieg der Linkspartei beigetragen und könnten die innenpolitische Situation nachhaltig verändern", so seine These. Die wird demnächst in vielen Städten der Republik in den Kinos diskutiert werden. Dort ist Kesslers neuester Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung Die neue Wut (1) ab heute zu sehen.

Der Titel ist Programm. Zwar dienen die Proteste als Rahmen. Doch eigentlich zeigt der Film gut, wie unter den Bedingungen von Agenda 2010 der Alltag vieler Menschen härter und die Angst ums Überleben größer werden. Er zeigt die arbeitslose Frankfurterin Barbara Willmann, deren größter Wunsch es ist, wieder eine Vollzeitbeschäftigung mit entsprechender Bezahlung zu bekommen. Doch zur Zeit versucht sie sich mit einem Job in einem Altkleiderladen der Frankfurter Caritas über Wasser zu halten. Kessler begleitet sie zur Arbeitsagentur, wo ihr Antrag für das neue Arbeitslosengeld nach Hartz IV begutachtet wird. Tatsächlich hat die Sachbearbeiterin etwas zu beanstanden. Die Zinsen vom Sparbuch eines der Kinder von Frau Willmann sind nicht angegeben. Obwohl es sich um Centbeträge handelt, muss sie den Nachweis nachreichen.

Besser hätte man nicht darstellen können, was es leben unter Bedingungen von Hartz IV heißt. Dann kann man auch besser verstehen, warum so viele Menschen, die noch in festen Beschäftigungsverhältnissen leben, eine solche Angst haben, zu HartzIV-Empfängern zu werden. Im Film wird der Streik der Opel-Arbeiter im Ruhrgebiet gezeigt, der nur wenige Tage im Oktober 2004 andauerte, aber sehr große Beachtung fand. Es war die Angst vor den Verlust der Arbeitsplätze, die die Opelianer auf die Barrikaden trieb, bestätigte der Bochumer Vertrauensmann der IG-Metall Paul Fröhlich. Diese Angst verhinderte aber auch, dass die Arbeiter ihre Streikmaßnahmen ausweiteten oder gar mit der Anti-Hartz-Bewegung verbanden, wie im letzten Jahr manche hofften.

Der Film hat nicht den Anspruch, eine vollständige Chronologie der Anti- Hartz- Bewegung zu liefern. Auch die theoretischen Prämissen der unterschiedlichen Spektren der Bewegung kommen nur am Rande vor. So wird gezeigt, wie sich in der Endphase der Anti-Hartz-Proteste verschiedene linke Gruppen um die Führung stritten. Auch die Vorwürfe einer mangelnden Distanz zu Rechtsextremen, die gegen den Magdeburger Andreas Erholdt (2) auf einer Konferenz der Hartzgegner erhoben (3) wurden, wird zwar dokumentiert, aber die Filmemacher fragten nicht weiter nach.

Erholdt stand im Spätsommer 2004 als Mr. Montagsdemonstration für kurze Zeit im Rampenlicht, weil er die erste Demonstration angemeldet hatte. Der Film zeigt aber auch, wie es weiterging, als die Kameras vor Erholdts Wohnung abgezogen waren. Als Gründer einer Kleinstpartei, die sich für Marktwirtschaft und gegen Hartz IV ausspricht (4), wird er nur von wenigen Mitstreitern unterstützt. An Erholdts Beispiel könnte man auch Aufstieg und Fall der Anti-Hartz-Bewegung aufzeigen. Doch das ist nicht Kessler Anliegen.

Gysi und Lafontaine sind ebenfalls im Bild. Der Saarländer kehrte mit seiner vielbeachteten Rede (5) vor einer Montagsdemonstration in Leipzig zurück in die politische Arena. Auch Gysi, der sich nach seinem politischen Debakel als kurzzeitiger Berliner Wirtschaftssenator zurück gezogen hatte, wurde während der Proteste wieder aktiv. Wurden hier die ersten Vorabsprachen für den Zusammenschluss der Parteien getroffen, denen die beiden Vollblutpolitiker jetzt vorstehen? Der Film legt es nahe. So kann man der Bewegung gegen Hartz IV nachträglich bescheinigen, dass sie zwar nicht Hartz IV verhindert, aber doch einiges bewirkt hat.

Die Angst vor dem sozialen Abstieg führt aber auch zur Abgrenzung und die Wut kann auch schnell in ein Ressentiment umschlagen. Auch dafür liefert der Film Beispiele. "Wir sind keine Sozialhilfeempfänger. Wir haben immer gearbeitet", rufen Demonstranten. Und in Magdeburg verkündeten Demonstranten lautstark, dass "Gewerkschaftsbonzen" hier nichts verloren hätten.

Schon die Diskussion nach der Vorführung des Filmes auf dem Erfurter Sozialforum (6) zeigte, wie schmal die Grenze zum Ressentiment ist. Ein bekennender Jungsozialist wurde kräftig ausgebuhlt, weil er daraufhin wies, dass Lafontaine in der SPD (7) vor 15 Jahren schon den Sozialabbau populär machen wollte.

(1) http://www.neuewut.de
(2) http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/25/0,1872,2184921,00.html
(3) http://www.freies-radio-kassel.de/modules.php?name=News&file=article&sid=195
(4) http://www.politikforum.de/forum/archive/4/2005/03/4/97534
(5) http://www.uni-leipzig.de/~mephisto/modules.php?name=News&file=print&sid=6386
(6) http://sozialforum2005.de/
(7) http://www.spd21.de/html/betr__lafontaine.html

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/20/20618/1.html

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Hallo, die Mindestlohndebatte ist ausgebrochen, nur nicht so, wie wir dies mit der Linkspartei verbunden sehen wollten. Sie zu wählen bleibt trotzdem richtig. Doch es verbleibt dabei: was wir nicht selber durchsetzen, werden andere nicht tun ... Grüße! Andreas

junge Welt vom 12.08.2005 Kommentar

Oskars peanuts; Mindestlohndebatte im Linksbündnis

Daniel Behruzi

Oskar runzelt ein wenig die Stirn - schon beginnt in der gesamten Linkspartei/WASG eine Debatte darüber, ob die Forderung nach einem Mindestlohn von monatlich 1400 Euro, wie sie im Wahlprogrammentwurf der Linkspartei.PDS festgeschrieben ist, nicht doch zu ambitioniert sei. Dabei ist schon dieser Betrag eine Abschwächung gegenüber der im WASG-Programm genannten Summe von 1500 Euro - brutto, wohlgemerkt. Die PDS-«Realpolitiker» Bodo Ramelow und Helmut Holter stimmen sogleich erfreut in den Chor der Maßhalteappellierer ein. WASG-Mitinitiator Klaus Ernst findet es «nicht entscheidend, ob es am Ende 100 Euro mehr oder weniger sind». Für diese Funktionäre, die sich mit kargen Ministergehältern oder Gewerkschaftslöhnen durchschlagen müssen, sind das vielleicht peanuts. Niedriglöhner, die eine Familie unterhalten müssen, sehen das sicher anders.

Die ganze Diskussion ausgelöst hatte ver.di-Chef Frank Bsirske, der in einem Interview zu Wochenbeginn einen Mindestlohn von 1250 bis 1300 Euro für ausreichend hielt. Kein Wunder! Hatte seine Dienstleistungsgewerkschaft doch erst kürzlich mit der «Tarifreform» im öffentlichen Dienst die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe von 1286 Euro West/ 1189,55 Euro Ost abgesegnet.

Die Gewerkschaften sind in vielen Branchen nicht mehr in der Lage, Hungerlöhne abzuwehren. Deshalb ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns dringend geboten. Dessen Höhe ist aber nicht unerheblich, wie Mecklenburg-Vorpommerns PDS-Minister Holter nach dem Motto «Hauptsache Mindestlohn, egal wieviel» suggeriert. Im Gegenteil: Wenn die Summe zu niedrig ist, könnte genau das passieren, was die Gegner einer gesetzlichen Regelung innerhalb der Gewerkschaften befürchten, nämlich eine Absenkung der Tarife im Niedriglohnbereich auf das im Gesetz festgeschriebene Niveau.

Bei der Aufstellung einer Mindestlohnforderung muß entscheidend sein, wieviel der Mensch zum Leben - nicht, nur zum überleben - braucht, und nicht was man gerade für «durchsetzbar» hält. Letzteres hängt ab vom Kräfteverhältnis; davon, ob Gewerkschaften, soziale Bewegung und die Linke in der Lage sind, für diese Forderung Druck zu entwickeln - und zwar vornehmlich auf der Straße und in den Betrieben, nicht allein im Parlament. Das DGB-nahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) hat sich, gemeinsam mit anderen europäischen Forschungsinstitutionen, auf einer Fachtagung im April für eine europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik ausgesprochen. Als kurzfristiges Ziel fordern die Wissenschaftler einen Mindestlohn von mindestens 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns. In Deutschland wären dies zwischen 1450 und 1500 Euro.

Es ist indes anzunehmen, daß es Lafontaine gar nicht um die Forderung im Wahlmanifest geht. Der Polit-Profi will damit dem bürgerlichen Mainstream wohl eher seinen «Realismus» und seine «Politikfähigkeit» bezeugen. Als Signal an die Millionen Niedriglöhner ist dies allerdings fatal.

http://www.jungewelt.de/2005/08-12/002.php


junge Welt vom 12.08.2005 Inland

Weiter Streit um Mindestlohn;

Widersprüchliche Reaktionen in Linkspartei und Wahlalternative auf Lafontaine- Vorstoß. Häme bei SPD und Grünen

Daniel Behruzi

Die nach äußerungen ihres Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine in der Linkspartei entbrannte Debatte über ihre Mindestlohnforderung hat sich am Donnerstag fortgesetzt. Während Mecklenburg-Vorpommerns Arbeitsminister Helmut Holter (PDS) Lafontaines Vorstoß, die Forderung von 1400 auf 1250 Euro abzumildern, unterstützte, kam Widerspruch von der PDS-Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch und aus der Wahlalternative WASG. Bei SPD und Grünen sorgte die Diskussion für hämische Reaktionen.

Lötzsch sprach sich in der Berliner Zeitung vom Donnerstag dafür aus, die im Entwurf des Wahlprogramms enthaltene Forderung nach einem Mindestlohn von 1400 Euro beizubehalten. «Mein Motto im Wahlkampf ist: Von Arbeit muß man leben können», sagte sie. Man könne von den geforderten 1400 Euro «nicht so einfach 150 Euro abziehen», so die Bundestagsabgeordnete. Lafontaine bekräftigte im Bayerischen Rundfunk hingegen seine Position. «Wir wollen nicht direkt an die Spitze in Europa gehen», erklärte er. Während die Mindestlöhne nach Angaben des DGB-nahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in Südeuropa zwischen 356 und 518 Euro monatlich liegen, werden in Belgien 1209, in den Niederlanden 1249 und in Luxemburg 1368 Euro als Minimum gezahlt. Mecklenburg- Vorpommerns Arbeitsminister Holter zeigte sich ebenso wie tags zuvor PDS- Wahlkampfchef Bodo Ramelow offen für eine Absenkung. Man solle auf Gewerkschafter und Ökonomen hören, die einen Mindestlohn von rund 1200 Euro angemessen genannt hätten, sagte Holter der Berliner Zeitung und behauptete, mit diesem Zugeständnis könne den Gegnern der Linkspartei der Wind aus den Segeln genommen werden.

Daß der PDS-Minister mit dieser Einschätzung daneben liegt, zeigten die Reaktionen von Sozialdemokraten und Grünen auf die Debatte. Der SPD-Abgeordnete Stephan Hilsberg frohlockte in Berlin, die Akteure von Linkspartei.PDS und WASG merkten «nun endlich sogar selber, daß sie offenbar die falschen Konzepte für die Zukunft unseres Landes haben». Sein Parteifreund Joachim Poß ergänzte gegenüber ddp, die Linkspartei versuche, «den Anschein der Seriosität zu erhöhen, weil sie merkt, daß sie zunehmend kritisch beobachtet wird». 200 Euro mehr oder weniger beim geforderten Mindestlohn änderten aber nichts daran, daß die Finanzierbarkeit «vorne und hinten nicht stimmt». Die Vizechefin der Grünen-Fraktion, Thea Dückert, meinte: «Unglaublich, aber wahr: Gysi und Lafontaine müssen bereits jetzt ihre ersten Wahlversprechen zurücknehmen. Das Lügengebäude wackelt.»

In der Partei Arbeit und soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative (WASG), der Lafontaine angehört, löste dessen äußerung indes unterschiedliche Reaktionen aus. WASG-Mitbegründer Klaus Ernst erklärte laut Zeitungsberichten: «Ob es am Ende 100 Euro mehr oder weniger sind, ist nicht entscheidend.» Der Spitzenkandidat der bayrischen Linkspartei wollte sich zwar nicht auf eine Zahl festlegen, betonte aber, «wichtig ist, daß wir uns einig sind, daß wir einen Mindestlohn brauchen». Kritik am Lafontaine-Vorstoß kam hingegen aus Berlin. WASG-Mitinitiator und Linkspartei-Kandidat Ralf Krämer sagte gegenüber junge Welt, die kurzfristige Durchsetzbarkeit könne beim Aufstellen der Forderung nicht ausschlaggebend sein. «Das Entscheidende ist die soziale und ökonomische Berechtigung, und die ist bei 1400 Euro voll und ganz gegeben», argumentierte Krämer, der zudem darauf hinwies, daß die WASG in ihrem Programm noch 1500 Euro gefordert hatte. «Außerdem glaube ich nicht, daß wir den Mindestlohn leichter durchsetzen können, wenn wir unsere Forderung verwässern», sagte er.

http://www.jungewelt.de/2005/08-12/011.php