Heute um 5 Uhr in der Frühe wurde es laut vor dem Haus von Wolfgang Clement am Baumgarten 9 in Bonn. Zwanzig ungebetene AußendienstmitstreiterInnen der Überflüssigen überprüften dessen private Wohnverhältnisse und hinterließen im Garten und auf dem Dach zahlreiche Weckalarme.
Guten Morgen, hier ist der Weck- und Prüfdienst der Überflüssigen
Wir sind heute hier, angebraust aus Paris, Marseille und Wanne Eickel, um unserer Wut über die sozialrassistische Hetze von Minister Clement Ausdruck zu verleihen.
Egal ob sie Sarkozy, Clement oder sonst wie heißen. Wir lassen uns von den Herrschenden nicht straflos als "Parasiten", "Sozialschmarotzer" oder "Abschaum" bezeichnen. Drehen wir den Spieß um, gehen wir in die Viertel, wo die Verantwortlichen wohnen!
"Der Hartz IV Empfänger mit dem Namen Clement wusste sofort, welche Richtung er einzuschlagen hatte, als er frühmorgens im Flur laute Stimmen und den Begriff Prüfdienst hörte. Fluchtartig flitzte Clement in Unterhose aus dem Schlafzimmer Richtung Terassentür. Beim Versuch aufs Garagendach zu klettern, rutschte er aus und konnte vom Überflüssigen Prüfhund gebissen werden. Es war dem hungrigen Hund eine große Freude."
Menschen, die zu Unrecht Sozialleistungen bezögen, so das ministerielle Pamphlet, seien schlimmer noch als Parasiten: "Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten- leben, übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten." Auch wenn es natürlich "völlig unstatthaft" sei, "Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen", wird darauf verwiesen, dass Sozialbetrug "besonders verwerflich sei", weil "nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert".
Die Überflüssigen verwehren sich jedoch nicht nur gegen derartig faschistoide Stimmungsmache. Die Überflüssigen begrüßen und unterstützen ausdrücklich die steigende Bereitschaft sich trickreich und selbstbewusst ein "aufgebessertes" Arbeitslosengeld II zu nehmen.
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Ulrich Hansen
Politiker aus den Reihen der großen Koalition gehen die Nachbesserung, sprich: Verschärfung etlicher «Hartz IV»-Bestimmungen an. Die bundesweite Absenkung des Grundbetrags auf 331 Euro ist zwar erst einmal vom Tisch, es drohen aber Kürzungen der Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger, die Unterhaltspflicht für Eltern von ALG-II-Empfängern bis 25 Jahre etc. Gegen sich haben die Koalitionspolitiker u. a. die Berliner Hartzkampagne, die derzeit eine weitere Strafanzeige gegen Wolfgang Clement vorbereitet.
Wegen Volksverhetzung, Beleidigung und übler Nachrede soll der Noch-Wirtschaftsminister vor Gericht. Die Anzeige bezieht sich - wie andere auch (jW berichtete) - auf den «Parasiten»-Begriff, den Clement wiederholt öffentlich verwendet hat. Zuerst in einem Bericht seines Ministeriums, der einen deutlich verharmlosenden Titel trägt: «Arbeitsmarkt im Sommer 2005». In der Folge machte er sich den Begriff noch mehrmals persönlich zu eigen, z. B. gegenüber der Chemnitzer Freien Presse vom 22. Oktober.
Sven Korzilius, Anwalt der Hartzkampagne und Rechtshistoriker, hat sich im Rahmen seiner Promotion u. a. mit dem Parasitismus-Vorwurf auseinandergesetzt und verweist auf die historische Belastung der Vokabel: Der «Parasiten»-Begriff fußt auf einem biologistischen Gesellschaftsbild und einem ökonomistischen Menschenbild, das sich im Kaiserreich ausprägte. «Was kosten die minderwertigen Elemente den Staat und die Gesellschaft?» ist der Titel eines 1911 preisgekrönten, beispielhaften Aufsatzes.
In der Weimarer Republik war ein solches Denken bereits weithin gebräuchlich, insbesondere in Kreisen, die der «Rassenhygiene» aufgeschlossen gegenüberstanden. In pseudowissenschaftlichen Artikeln wurde der «Volkskörper» als geschädigt dargestellt, was nur durch ein «Ausmerzen» der «kranken» und «parasitären» Teile des Volkes geschehen könne. Mediziner- und Fürsorgerkreise diskutierten entsprechende Maßnahmen: Zwangssterilisationen zur Verhinderung «parasitären» Nachwuchses (dies richtete sich gegen das Proletariat), die Euthanasie genannte Vernichtung «lebensunwerten Lebens» sowie die Zwangsverwahrung «arbeitsscheuer Unterstützungsempfänger» in primitivsten Anstalten.
Die Radikalisierung des geistigen Klimas während der Weltwirtschaftskrise trug ihren Teil dazu bei, daß die Nazis die «Parasiten»-Rhetorik in praktische Politik umsetzen konnten. Drei zentrale Felder des Naziterrors sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Massenweise Zwangssterilisationen (wegen «moralischen Schwachsinns», betroffen waren besonders Frauen aus den Unterschichten), Tausende von Euthanasiemorden in psychiatrischen Anstalten und schließlich die Einweisung zahlreicher Menschen in Konzentrationslager als «Asoziale» mit dem Ziel ihrer «Vernichtung durch Arbeit».
In der Nazipropaganda gegen Juden hatte der «Parasiten»-Begriff seinen festen Platz. Nach dem 1988 erschienenen Wörterbuch von Brackmann/Birkenauer gehört die Vokabel eindeutig zum «NS-Deutsch». Leider bediente sich auch die UdSSR des «Parasiten»-Begriffs. Ende der 50er Jahre wurde dort eine Reihe von «Parasiten»-Gesetzen erlassen, auf deren Grundlage die ärmsten der Gesellschaft in die Verbannung geschickt oder in Arbeitslager gesteckt werden konnten. Versuche, dies auch in der DDR einzuführen, scheiterten.
Wer, wie Clement, bei einer solchen Vorbelastung des Begriffs, die ärmsten Teile der Bevölkerung, nämlich ALG-II-Empfänger, als Parasiten bezeichnet und durch unzulässige Dunkelzifferspekulationen unter Generalverdacht stellt, läßt jegliches historische Bewußtsein vermissen. Der Tatbestand der Volksverhetzung, so Korzilius, dürfte erfüllt sein. Daß der «Parasiten»-Begriff ein Verächtlichmachen darstellen kann, welches die Menschenwürde angreift, wurde mehrfach von deutschen Strafgerichten festgestellt (BayObLG NJW 1995, 145; Kammergericht JR 1998, 213).
Die Verfasser des Clement-Papiers verwandten ihn böswillig, wollten auf Kosten der Betroffenen vom Scheitern ihrer Arbeitsmarktpolitik ablenken. Berücksichtigt man, wie häufig in den vergangenen Jahren etwa Obdachlose Opfer von Körperverletzungs- und sogar Tötungsdelikten wurden, wie viele Übergriffe es auf Asylbewerber gab (der «Parasiten»-Begriff bezeichnet im Clement-Bericht hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund), ist er darüber hinaus konkret geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören.
* Diskussion zum Thema mit Sven Korzilius, weiteren Mitgliedern der Hartzkampagne, der WASG und Gewerkschaftern heute, 19.30 Uhr, Prinzenallee 58, Berlin-Wedding. Besprochen werden außerdem politische Alternativen wie Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld (am Beispiel des BAG-SHI-Modells)
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Sueddeutsche 17.11.2005 12:19
"Eine Kostenexplosion, also einen extrem starken Anstieg des Finanzbedarfs, gibt es nicht. Das bestätigt ein Insider im Regierungslager. Der Hartz-kritische Bremer Arbeitsmarktforscher Paul Schröder will nun ausgerechnet haben, dass ohne die Reform der Staat 2005 insgesamt 43 Milliarden statt heute 42 Milliarden hätte ausgeben müssen, er jetzt also spart.
Doch auch wenn die Kosten tatsächlich gestiegen sein sollten: Auf massenweisen Missbrauch, wie dies Wirtschaftsminister Wolfgang Clement behauptet, geht die Entwicklung nicht zurück. „Objektive Missbrauchszahlen hat niemand”, so Ifo-Forscher Werding.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung hat der ökonom Hauser 2003 die Dunkelziffer bei der Sozialhilfe untersucht - nicht den Missbrauch, sondern umgekehrt die Fälle, in denen Menschen berechtigte Ansprüche nicht geltend gemacht haben. Solide abgesichert Die Studie ist äußerst solide abgesichert, weil sie sich gleich auf drei verschiedene Quellen stützt, von der Einkommensstichprobe des Statistischen Bundesamts bis zum Sozio-ökonomischen Panel beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Das frappierende Ergebnis: Bei Niedriglöhnern, die aufstockende Sozialhilfe hätten bekommen können, beantragte nur einer von drei Berechtigten tatsächlich Stütze. Bei Arbeitslosen war es einer von zwei Berechtigten. „Das geschah teils aus Scham, teils aus Unkenntnis”, sagt Hauser. Das Arbeitslosengeld II führt nun dazu, dass diese Menschen ihre Ansprüche auch anmelden."
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/265/63202/
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