Texte zum Existenzgeld - Geschichte
Kapitel I aus dem Buch "Existenzgeld"
von Peter Krebs und Harald Rein
Email: FALZ-@t-online.de
EXISTENZGELD! -
Zur Geschichte einer Forderung
(Harald Rein)
Inhalt:
- Einleitung
- Vorläufer
- Der Kongress 1982
- Frauen mischen sich ein
- Die 13 Thesen
- Die 10 Positionen
- Kritische Anmerkungen zur Forderung nach Existenzgeld
- Die Kritik wird von der BAG-E aufgegriffen
Einleitung
Wer zum ersten mal von der Forderung nach Existenzgeld hört,
denkt nicht selten an eine der vielen Konzepte zur Mindest- oder
Grundsicherung, wie sie in mannigfaltiger Variantenbreite von
Unternehmerverbänden bis zur PDS in die öffentlichkeit lanciert
werden. Sie alle bauen ihre Vorschläge auf der Grundlage der
bestehenden sozialen Sicherungssysteme mit ihren knapp bemessenen
Ressourcen, ihren sozialen Ausschließungsfaktoren, wie
Bedürftigkeitsprüfungen, und ihrer Verbindung zum Zwang zur Arbeit
auf.
Daß es sich beim Existenzgeld gerade nicht um eine systemimmanente
Konzeption handelt, die mit den in den Medien und in unzähligen
Veröffentlichungen dargelegten Vorstellungen kompatibel ist, wird
erst bei genauerem Einblick in die Entstehungs- und
Entwicklungsgeschichte der Forderung nach Existenzgeld
deutlich.
Diese inhaltlichen Mißverständnisse waren es auch, die auf der
"Arbeitskonferenz für Existenzgeld und eine radikale
Arbeitszeitverkürzung" im März 1999 in Berlin für reichhaltige
Verwirrung sorgten.
Bereits die einleitende Podiumsdiskussion wurde von einem Wirrwarr
an Meinungen über das vorgegebene Konferenzthema bestimmt.
Unübersehbar war die mangelnde Kenntnis der meisten Vortragenden
über die ursprüngliche Existenzgeldforderung der
Erwerbsloseninitiativen. So konnten munter Behauptungen
aufgestellt, Vergleiche gezogen und Einschätzungen gegeben werden,
die eher zur theoretischen Konfusion, denn zu einer produktiven
Diskussion beitrugen. Dennoch gingen von diesem Kongreß auch
inhaltliche Impulse aus, wie aus den Beiträgen des vorliegenden
Buches nicht unschwer zu erkennen ist.
Auch wenn bereits seit Februar 1992 und überarbeitet seit Dezember 1996 ein Positionspapier der "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut" (BAG-Erwerbslose) zum Existenzgeld vorliegen, ist es den Erwerbsloseninitiativen nicht gelungen, ihre Inhalte und Forderungen einer breiteren öffentlichkeit zu offerieren. Erst in letzter Zeit ergab sich ein Diskussionsinteresse über das aktive Erwerbslosenspektrum hinaus.
Im folgenden möchte ich einen Einblick in die
Entstehungsbedingungen der und die weitere Entwicklung zur
Existenzgeldforderung geben. Im letzten Drittel meines Aufsatzes
beschäftige ich mich mit einigen KritikerInnen des Existenzgeldes
und versuche deutlich zu machen, an welchen inhaltlichen Punkten
weiter diskutiert werden könnte.
Wenn ich von Existenzgeld rede, so meine ich die seit 1982 in
einer sehr begrenzten öffentlichkeit diskutierte und seit 1992
formulierte Forderung der organisierten Erwerbsloseninitiativen .
Meines Wissens gibt es sonst keine ausgearbeitete Position, die
unter diesem Namen firmiert
Vorläufer
Es mag überraschen, daß bereits Anfang der Achtziger Jahre, als
das Nachdenken über Alternativen zum kapitalistisch organisierten
Arbeitsmarkt in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle
spielte, Erwerbslose eine materielle und soziale Grundsicherung zum
Thema ihrer Tagungen erhoben. Dies entsprach sehr wenig dem
allgemeinen Bild des gedemütigten, verzweifelten oder
niedergeschlagenen Erwerbslosen, der ohne gesicherten Arbeitsplatz
in eine unsichere Zukunft zu blicken hat.
Tatsächlich gibt es weder ein einheitliches Verhalten der
Betroffenen auf langandauernden Arbeitsplatzverlust, noch läßt sich
wissenschaftlich genau voraussehen in welcher Weise Arbeitslose
ihren Alltag bewältigen. "Die betroffenen Menschen erlebten und
erleben Erwerbslosigkeit nicht nur als Resignation, Apathie oder
Krankheit, sondern auch als politischen und persönlichen
Selbstfindungsprozeß sowie als Möglichkeit, vorhandene Aktivitäten
zu intensivieren bzw. neue zu entfalten. Sie werden mit einer
ungewohnten, Unsicherheit produzierenden Situation konfrontiert,
die sie zwingt, Lebensvorstellungen neu zu überdenken und zu
realisieren."
In diesem Zusammenhang spielen besonders die Auswirkungen sozialer
Strukturen und die Einwirkungen staatlicher Bürokratien eine
prägende Rolle, ebenso wie die Fähigkeit und Möglichkeit
kollektiver Deutungsinterpretationen der eigenen sozialen
Situation. Hier können sich einige günstigere Voraussetzungen der
Erwerbslosen gegenüber den Arbeitnehmern zeigen. Das
disziplinierende Band einer unter Umständen lebenslangen
Betriebszugehörigkeit, mit einer darauf aufbauenden
arbeitsmoralisch geprägten Lebensperspektive und einem den
kapitalistischen Gesetzen gehorchenden und reformistisch geprägten
Verteilungskampfbewußtsein, fällt für einen Teil der zur
Arbeitslosigkeit gezwungenen oder in die Arbeitslosigkeit
freiwillig gegangenen weg. Ihre Sichtweise ist eher darauf
gerichtet, über den eigenen sozialen Tellerrand hinweg zu sehen,
ihr Ziel muß nicht die um jeden Preis zu erfolgende Reintegration
in die Arbeitswelt sein. Ihr Status und ihre Erfahrungen können
sowohl den Blick offenlegen für das Erkennen von Ungerechtigkeiten,
wie auch für die Möglichkeit, Grenzen vorgegebener
gesellschaftlicher Realitäten zu überwinden und zu einer
Utopiefindung zu kommen. Diese Radikalität unter Erwerbslosen
findet sich in allen industriellen Epochen des Kapitalismus.
Aus diesen Gründen kam der Impuls zur Formulierung einer
systemsprengenden, egalitären Forderung nach Existenzgeld nicht von
Seiten einer hauptsächlich auf Lohnarbeit ausgerichteten
Arbeiterbewegung, sondern aus dem Ideenspektrum von Arbeitslosen
und prekär Beschäftigten. Besonders sogenannte JobberInnengruppen
ergriffen Anfang der Achtziger Jahre die politische Initiative.
Ausgehend von den in dieser Zeit aufkeimenden autonomen
Arbeiterkämpfen in Deutschland versuchten sie politische
Anknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Widerstandslinien
innerhalb und außerhalb der Fabriken zu finden. "Einerseits
benutzen immer mehr Leute das Jobben als Möglichkeit, sich dem
Arbeitszwang zeitweise zu entziehen, andererseits produzieren die
Kapitalisten immer mehr mobile Arbeitskraft, um den von der Klasse
erkämpften Status Quo anzugreifen. Uns als Jobber zu organisieren,
heißt beides einander zu konfrontieren; heißt, den Faden:
Septemberstreiks, Jugendzentrumsbewegung und den
Fabrikarbeiterkämpfen weiterzutreiben; heißt, unsere Geschichte der
Arbeitsverweigerung dem kapitalistischen Projekt des Arbeitszwangs
entgegenzusetzen." Andere Jobbergruppen suchten gemeinsame
Handlungsstrategien mit Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen,
die besonders im nordeutschen Raum in dieser Zeit vielfältige
Aktionen z.B. vor und in Arbeits- bzw. Sozialämtern organisierten,
sich aber auch theoretisch mit gesellschaftsverändernden
Forderungen auseinandersetzten. In wieweit die "italienische
Diskussion" über "politischen Lohn" hierbei eine wesentliche Rolle
spielte läßt sich nicht klar erkennen. Gewisse übereinstimmungen,
auch wenn selbstredend die ökonomische und soziale Situation in
Italien nicht einfach übertragbar waren, sind aber nicht zu
leugnen. 1970 schreibt die in der Theoriebildung, aber auch in den
praktischen Kämpfen maßgebliche Gruppe "Lotta Continua" über ihre
Forderungen: "Das allgemeine dieser Ziele ist der Lohn für
Arbeitslose - für die ständig sowie für die vorübergehend
Arbeitslosen -, der ihnen die Lebensmöglichkeit sichert. Die
Forderung nach Arbeitsplätzen und die Konkurrenz zwischen Arbeitern
ist ein Problem für den, der um Ausbeutung und Arbeitslosigkeit
feilschen will."
Im Klartext bedeutet dies den Bruch mit der traditionellen
Vorstellung des Kampffeldes Betrieb als ausschließlich
gesellschaftliche Veränderungsebene und mit dem hauptsächlich aus
Gewerkschaftskreisen kommenden Ruf nach einem Recht auf Arbeit.
Kaum Einfluß hatten Stimmen, wie die von Günther Anders, der einen
Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung zu
erkennen glaubte. "Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also um
so weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer
Gesellschaft ist ... Man kann nicht höchste Rationalisierung, die
die Zahl der erforderten Arbeiter senkt, und Vollbeschäftigung
zugleich auf Programm setzen." In Deutschland wurde die Debatte von
der Redaktion "Autonomie" aufgegriffen. Als Ausgangspunkt der
überlegung für einen "politischen Lohn" wurde die Aufhebung der
Funktion der Erwerbslosigkeit als Druckmittel gegenüber den
Beschäftigten genannt. Dies funktioniere nur dort, wo "der
Arbeitslose noch an die Fabrik gebunden bleibt, seine
Arbeitslosenunterstützung vom Fabriklohn herleitet (und) wenn er
den Lohn immer noch als äquivalent für seine produktive Leistung
sieht." Dagegen gelte es , eine "revolutionäre Strategie der
Arbeitslosigkeit" zu setzen. Eckpfeiler hierfür könnten die
"Loslösung des Lohns von der Produktivität, der 'politische Lohn'
als Macht, der Kampf um mehr gesellschaftlichen Reichtum bei
weniger Arbeit" und "die Artikulation von Bedürfnissen unabhängig
von der Leistung" sein. Die Forderung nach einem "garantierten
Lohn" stellte erstmals in der Arbeiterbewegungsgeschichte die
Solidarität mit den Erwerbslosen außerhalb einer zwangsweisen
Lohnarbeiterexistenz. Als Lösung wurde nicht die traditionelle
Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes verlangt, sondern die gerechte
Verteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums an
Beschäftigte und Nichtbeschäftigte.
Spätere Initiativen der Erwerbslosen entwickelten, auch ohne
gründliche Kennntnisnahme dieser bewegten Zeit, auf Grundlage
objektiver gesellschaftlicher Veränderungen und subjektiv
bestimmter Handlungsmöglichkeiten den eigenständigen Gedanken nach
einem Existenzgeld.
Der Kongress 1982
Tosender Beifall begleitete die Berichterstatterin der
Arbeitsgruppe VIII zum "Begriff der Arbeit", als sie die Ergebnisse
ihrer Diskussionen auf dem Abschlußplenum vortrug. Wir schreiben
das Jahr 1982 und befinden uns auf dem 1. Arbeitslosenkongreß in
Frankfurt/M.
Nach Jahren kontinuierlicher Arbeitslosigkeit, mit der Bildung von
Arbeitslosengruppen in vielen Städten und Landkreisen in
Deutschland, formulierte sich ein starkes Bedürfnis nach
bundesweiter Zusammenarbeit und öffentlicher Präsenz. Resultat war
die Organisierung des Frankfurter Kongresses.
Die damals, besonders in sozialdemokratischen und
gewerkschaftlichen Kreisen, vorherrschende Forderung nach einem
"Recht auf Arbeit" stieß auf breite Kritik bei den VertreterInnen
der unabhängigen Erwerbslosen- und Jobberinitiativen. Für sie
endete das "Recht auf Arbeit" in eine Lohnarbeit um jeden Preis.
Stattdessen forderten sie ein Recht auf eine gesicherte Existenz
für alle.
"Offenbar ist Arbeit nur dann Arbeit, wenn sie Profit einbringt
und systemstabilisierend ist. Wir müssen unserer Meinung nach neu
darüber nachdenken, was wir, wie wir und unter welchen Bedingungen
wir produzieren wollen ... Wir sollten unseren neuen Begriff von
Arbeit auch politisch offensiv vertreten. Wenn Umweltschützer die
Startbahn West verhindern, dann ist das Arbeit; wenn "Arbeitslose"
sich in Arbeitsloseninitiativen zusammenschließen, dann ist das
Arbeit; wenn Hausfrauen einen Fleischboykott organisieren, für mehr
Kindergartenplätze demonstrieren, ist das Arbeit. Nur - und das ist
das Dilemma - dafür kriegen wir keine Knete... Sollten wir deshalb
aus dem Reich dieser Ideen wieder auf den Boden der unerfreulichen
Tatsachen herabsteigen?"
Ein Teil der KongreßteilnehmerInnen fühlte sich eher den
Auffassungen Paul Lafargues verbunden, der bereits 1848 ironisch
schrieb: "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller
Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine
Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und
Massenelend zur Folge hat. Es ist die Liebe zur Arbeit, die
rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer
Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige
Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die ökonomen und die
Moralisten die Arbeit heiliggesprochen."
Die Auseinandersetzung über den herrschenden Arbeitsbegriff bzw.
der real existierenden Lohnarbeit durchlief den gesamten Kongreß
und war Grundlage der später konzipierten Forderung nach einem
Existenzgeld.
Die soziale Realität von prekär Beschäftigten (die damals als
JobberInnen durchaus bewußt in solcherart Tätigkeiten eintauchten)
sowie eines Teils der Erwerbslosen ließ den eigenen politischen
Blickwinkel auf Alternativen jenseits der Lohnarbeit, aber auch
jenseits des traditionellen Klassenkampfes zu. Dies auch deshalb,
weil Forderungen der Erwerbslosen in Tarifauseinandersetzungen oder
Streiks nirgends eine Rolle spielten, während umgekehrt Arbeitslose
in nicht wenigen Fällen praktische Solidaritätsarbeit zur
Unterstützung von Arbeitskämpfen leisteten.
Provokativ und selbstbewußt setzte die Hamburger "Initiative
Arbeitsloser-Sozialhilfeempfänger-Jobber-Ausländer" gegen den
Anspruch nach Arbeit für alle, die Forderung: " Wir wollen 1500 DM
für Alle (mit Inflationsausgleich und keine faulen Tricks)."
Erstmals stellten Erwerbslose das eherne Gesetz des Arbeitens um
jeden Preis in Frage und traten mit einer Forderung an die
öffentlichkeit, die die bisherigen Diskussionen zum Thema
Arbeitslosigkeit und Armut durcheinanderwirbelten. Aber bereits
diese Provokation nach 1500 DM ohne lohnzuarbeiten beinhaltete,
neben der Kritik an der kapitalistischen Arbeit, auch einen
systemsprengenden Aspekt, denn weitergedacht bedeutete diese
Forderung eine grundlegende Veränderung der politischen und
sozialen Verhältnisse, in Verbindung mit der kollektiven
Inanspruchnahme des bisher individuell angeeigneten Reichtums.
Dieser Anspruch auf das gesellschaftliche Ganze prägte die weitere
Diskussion innerhalb der Erwerbsloseninitiativen bis heute und
drückte sich 1985 auf den "Zentralen Aktions- und Konferenztagen"
der norddeutschen und westberliner Erwerbslosen-Initiativen in
Hamburg so aus:
"1. Sind wir nicht länger bereit, das derzeit herrschende System
des Lohnarbeitszwangs zu akzeptieren, das uns unter dem Druck der
Massenarbeitslosigkeit jede Form und Bezahlung der Arbeit zumuten
will, die sich die Unternehmen einfallen lassen!
2. Sind wir nicht länger bereit, bei unserer Forderung nach einem
menschenwürdigen Leben Rücksicht auf den Bestand und die
Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu nehmen. Wenn das System in
seiner heutigen Form die Sicherung unser Existenz nicht aushält,
dann muß es verändert werden!"
Für die damals im norddeutschen Raum sehr aktiven Erwerbslosen-
und Jobbergruppen hatte die Existenzgeldforderung auch eine
praktische Aussage. "Als unmittelbare Umsetzungsschritte wurde die
konsequente Ausnutzung aller staatlichen Transferleistungen
('vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte') ebenso
vorgeschlagen wie direkte Aneignungsaktionen: Selbstbedienung in
Supermärkten oder am Arbeitsplatz, Nulfahraktionen in öffentlichen
Einrichtungen und Schwarzfahren oder auch Versicherungsbetrug,
eigenständige Mietkürzungen und Stromklau."
Ihre Kämpfe für ein "besseres Leben" verdeutlichten am besten, das
der Existenzgeldforderung innewohnende dialektische Verhältnis.
Einerseits die mögliche Entkoppelung von Arbeit und Einkommen sowie
die Gleichwertigkeit von Lohn- und Haus/Reproduktionsarbeit unter
dem Blickwinkel der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft
voranzutreiben und andererseits die Forderung "als praktische
Aneignungsbewegung" zu verstehen.
Frauen mischen sich ein
Starker inhaltlicher Einfluß auf die Formulierung der
Existenzgeldforderung entsprang auch aus Diskussionsbeiträgen von
Teilen der sozial engagierten Frauenbewegung. Bereits in den
Debatten während des ersten Bundeskongresses stellten insbesondere
Frauen den gängigen Arbeitsbegriff radikal in Frage und forderten
eine eigenständige finanzielle Absicherung.
In den darauf folgenden Jahren trafen sich zwischen 1983 und 1987
auf verschiedenen bundesweiten Treffen erwerbslose Frauen, um ihren
spezifischen Interessen und Forderungen Geltung zu verschaffen. Ein
inhaltlicher Schwerpunkt hierbei war der Kampf gegen die
Bedürftigkeitsprüfung bei Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die
u.a. zu einer Verfestigung der finanziellen und sozialen
Abhängigkeiten von Frauen gegenüber ihren erwerbstätigen Männern
führt, die die beruflichen Tätigkeiten der Frauen in Haus-, Kinder-
und Beziehungsarbeit nicht anerkennt und somit die
geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zementiert. Diese Impulse
nahm der zweite Bundeskongreß der Arbeitslosen 1988 auf und
organisierte eine bundesweite Kampagne gegen
Bedürftigkeitsprüfung.
Ein weiteres Arbeitsfeld erwerbsloser Frauen war die
Auseinandersetzung mit der Forderung nach einem garantierten
Mindesteinkommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die
Nichtanerkennung häuslicher Arbeit und die finanziellen
Abhängigkeiten von Männern, gerieten die unterschiedlichen
Möglichkeiten der eigenständigen materiellen Absicherung in das
Blickfeld der Frauen. Ihr damaliges Resumee war zwiespältig.
Mindesteinkommensmodelle in Form der negativen Einkommenssteuer
oder der Sozialdividente lehnten sie ab, ebenso die Vorschläge von
Opielka und Gorz, da zum einen die Höhe des garantierten Einkommens
so niedrig angesetzt wurde, das von einer "garantierten" Armut
gesprochen werden konnte und das in keinem der Vorschläge die
Besonderheit von Frauenarbeit Anerkennung fand. Die Frage stellte
sich zwingend: "Wie kann es ein 'Recht auf Einkommen' anstatt eines
'Rechts auf Arbeit' geben, so lange es kein Recht auf Einkommen für
Arbeit gibt?"
Selbst einem in der Höhe akzeptableren Mindesteinkommen standen
die Fraueninitiativen skeptisch gegenüber. "Ein regelmäßiges
garantiertes Einkommen für Nicht-Erwerbstätige ändert per se nichts
an der Tatsache, daß die Haus- und Kinderarbeit überwiegend in den
Händen der Frauen liegt. Im Gegenteil, es kann die geschlechtliche
Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau zu Lasten der Frauen sogar
festigen. Sie ist leichter ideologisch zu rechtfertigen, denn die
Frauen verfügen dann über eigenes Geld. Wozu sollen sie also noch
eine Ausbildung absolvieren und außerhäuslich arbeiten? Frauen
werden wie gehabt auf die klassischen weiblichen Arbeiten und Werte
verwiesen, während die (noch) geschützten Erwerbsarbeitsplätze im
sogenannten formellen Bereich nach wie vor den Männern vorbehalten
bleiben..." Ein Hinweis, der auch später während der
Existenzgeldformulierung eine Rolle spielte: formale radikale
Umwälzungen im ökonomischen reichen nicht aus, wenn nicht auch das
Bewußtsein jedes Einzelnen die Notwendigkeit eines theoretischen
und praktischen Umdenkens nachvollzieht.
Trotz dieser Kritiken sahen die an der Diskussion beteiligten
Fraueninitiativen auch Vorteile eines Mindesteinkommens, denn bei
ausreichender Höhe könnte sich die finanzielle Situation von Frauen
verbessern. Voraussetzung wäre allerdings die "Gewährung von
Sozialleistungen nach dem absoluten Indivdualprinzip. D. h.
Zahlungen müssen ohne 'Bedürftigkeitsprüfungen' an die einzelne
Person gehen und nicht etwa - wie von vielen
Mindesteinkommensbefürwortern gefordert wird - an den Haushalt oder
die Familie genauer an den - soweit vorhanden - männlichen
Haushaltsvorstand. Es muß ein Rechtsanspruch auf das
Mindesteinkommen bestehen, ohne irgendwelche Wenn und Aber." Durch
eine ausreichende materielle Absicherung bzw. auch durch eine
Debatte darüber, könnte die herrschende Arbeitsbegrifflichkeit
kritisch hinterfragt werden und "die patriarchale Trennung zwischen
unbezahlter (Frauen-)Arbeit und bezahlter (Männer-)Arbeit
aufgeweicht werden." ähnlich wie in der Diskussion über das
Existenzgeld begriffen die Frauen, daß sie mit ihren weitergehenden
Forderungen, wie etwa das die unbezahlte Frauenarbeit
sozialversicherungspflichtig bezahlt werden muß, das der Zwang zur
Erwerbsarbeit abgeschafft werden muß, daß es trotzdem
jeder(m)möglich sein muß, eine gesicherte Existenz zu haben, daß
jede Frau eigenständige Ansprüche haben kann usw. außerhalb des
gesellschaftlich Machbaren standen. "Wir greifen damit die
Grundpfeiler eines gesellschaftlichen Systems an, das seinen
Reichtum vor allem auf der überausbeutung der Frauen hier und in
der sogenannten 3. Welt aufbaut." Und auch die damals
vorgeschlagenen 1600 DM pro Monat für jede und jeden zeigten
hauptsächlich auf, was erforderlich und möglich wäre, aber unter
den gegebenen politischen Verhältnissen nicht realisierbar
erschienen. Solcherart Forderungen sollten deutlich machen: "Es
geht uns um eine tiefgreifende Verbesserung der ökonomischen
Situation der Frauen und um den Angriff auf die
geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und die kapitalistische
Warenwirtschaft."
Etliche Ergebnisse der Diskussionen in diesen Jahren fanden später
auch Einzug in die Formulierung eines Existenzgeldes. Es ist
sicherlich diesen Fraueninitiativen zu verdanken, daß eine der
zentralen Forderungen, die nach der "Aufhebung der
geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung" ist und das für die
Begründung eines Existenzgeldes auf erarbeitete Inhalte dieser Zeit
zurück gegriffen wurde: "Wir verstehen unter gesellschaftlich
notwendiger Arbeit nicht nur den 'normalen' Produktions- und
Dienstleistungsbetrieb, sondern auch die gesamte unbezahlte
'private' Reproduktionsarbeit. Sie umfaßt u.a. die Erziehungs- und
Hausarbeit, die Arbeit in Initiativen, Nachbarschaftshilfe,
kulturelle Arbeit, gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Beratung.
Existenzgeld bedeutet für uns die individuelle Absicherung, um
diese notwendigen Arbeiten auf freiwilliger Basis machen zu können.
Wir wollen diese Arbeiten nicht auch noch in
'Lohnarbeitsverhältnisse' zwingen und womöglich damit ihre
geschlechtsspezifische Verteilung festschreiben."
Die 13 Thesen
Mehrere Faktoren beschleunigten einige Jahre später die
inhaltliche Konzipierung einer existenziellen Absicherung durch die
Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und
Armut (heute: Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger
Erwerbsloseninitiativen)BAG-Erwerbslose.
Je dauerhafter die Massenerwerbslosigkeit anhielt, desto
deutlicher wurde die Unmöglichkeit des kapitalistischen Systems,
jedem Menschen im erwerbsfähigen Alter einen angemessenen
Arbeitsplatz oder zumindest eine menschenwürdige materielle
Absicherung zu garantieren, und um so häufiger wurde eine
Lebensperspektive in Frage gestellt, die ausschließlich die
Lohnarbeit als Sinn des Lebens akzeptiert. Hinzu kam das Ende des
"Realsozialismus" und der Beginn des "Umbaus" des bundesdeutschen
Sozialstaates. Altes mußte neu diskutiert werden und Neues genau
analysiert werden. Der Sturz des DDR-Regimes wurde in der
öffentlichkeit gleichgesetzt mit dem Scheitern von
gesellschaftlicher Phantasie und Utopiedenken. Das Nachdenken über
Alternativen zu dem Bestehenden galt als antiquiert, Utopien als
für immer diskreditiert.
In dieser vorherrschenden Stimmungslage bezogen die organisierten
Erwerbsloseninitiativen Position gegen den allgemeinen Trend, nur
noch Realpolitik auf der Basis kapitalistischer Entwicklung zu
akzeptieren. Die BAG entschloß sich, ihre Einschätzung, auch in
Abgrenzung zu realpolitischen Ansätzen von seiten der Parteien,
Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, zu formulieren. Die "13
Thesen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der
Ausgegrenzten" wurden im Februar 1992, nach langem
Diskussionsprozeß, verabschiedet. Sie verdeutlichen in ihrem Kern,
daß unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen eine
Verwirklichung eines Existenzgeldes unmöglich ist. Sie zeigen aber
auch gleichzeitig auf, daß die materielle Voraussetzung für eine
existenzielle Absicherung für alle vorhanden ist und es politisch
entschieden bzw. erkämpft werden muß, wie der gesellschaftliche
Reichtum eingesetzt wird. Aus diesem Grunde wurde auch keine
konkrete Zahl oder ein besonderer Berechnungsmodus über die Höhe
eines Existenzgeldes angegeben.
An fünf Punkten unterscheidet sich der Charakter des
Existenzgeldes von herkömmlichen sozialpolitischen
Mindestsicherungskonzepten:
- in der Anspruchshöhe des Existenzgeldes (wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, statt Teilhabe am Existenzminimum),
- in der Entkoppelung des Existenzgeldes vom Zwang zur Lohnarbeit,
- in der Infragestellung der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit,
- in der Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und
- in der Gültigkeit des Existenzgeldes für alle hier Lebenden.
Als wichtig wurde die Hervorhebung einer politischen und sozialen Utopie von Emanzipation und Befreiung von Herrschaft erachtet. Diese schließt die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist und was für wen produziert wird, mit ein. Die Orientierung der Produktion an den Bedürfnissen der Produzenten und damit die gesellschaftliche Aneignung der Arbeit erhielt einen besonderen Stellenwert.
Der Anspruch auf Existenzgeld soll für alle hier lebenden Menschen, gleichgültig welcher Nationalität sie angehören und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, gelten.
Die Erfahrungen mit dem Existenzgeldpapier in der öffentlichkeit zeigten, wie wichtig es war, zum damaligen Zeitpunkt den utopischen Charakter der Forderung herauszustellen. Denn es handelte sich weniger um einen direkten praktischen Kampf zur Verwirklichung der Existenzgeldforderung, als vielmehr um einen Vorstoß in das politisch verkrustete Bewußtsein verschiedener Bevölkerungsschichten. Der theoretische Erklärungsansatz für Existenzgeld umfaßt eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung, in der, trotz hoher Unternehmensgewinne, Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse als Ausdruck kapitalistischer Profitlogik dominieren und, in der es auf diesem Hintergrund um neue Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geht. Als sozialpolitische Utopie strebt sie die Aufhebung der Spaltungen innerhalb der Armutsbevölkerung (in Arbeitslose, SozialhilfebezieherInnen, NiedriglöhnerInnen, RentnerInnen usw.) an, als provokative Forderung verdeutlicht sie, das auch gegessen werden darf, ohne sich dem kapitalistischen Verwertungsprinzip unterwerfen zu müssen und als aufklärerische Komponente beinhaltet sie die Aussage, daß Lohnarbeit kein unveränderbares Schicksal darstellt.
Losgelöst vom "(Lohn)-Arbeitswahn" werden auch traditionell vermittelte politische und soziale Erfahrungswerte obsolet: das kapitalistische Wachstumsmodell, die Rolle der Arbeiterklasse als hauptsächliche Kraft für eine gerechte Gesellschaft und die positive Rolle von Parteien oder Wahlen im Zusammenhang mit der Sicherung der Interessen von Arbeitslosen und SozialhilfebezieherInnen.
Und es kann ungeniert ein Anspruch auf den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum erhoben werden, zumal er nur unter Mithilfe der Armen, Arbeitslosen und Ausgebeuteten solche Dimensionen erreichen konnte.
Die 10 Positionen
Einige Jahre später war dieser politische Ansatz, ausschließlich
auf eine vermeintlich bessere Zukunft zu verweisen, allerdings
nicht mehr ausreichend. Denn unberücksichtigt blieb der innerhalb
der Erwerbsloseninitiativen vorhandene vielfältige Erfahrungsschatz
in bezug auf konkrete politische Inhalte und Forderungen. In einer
aktualisierten Auflage wurden diese Einsichten und Kenntnisse als
Verbindungsglieder zwischen Gegenwart und Zukunft integriert.
Im Dezember 1996 veröffentlichte die BAG eine überarbeitete
Fassung unter dem Titel "10 Positionen gegen falsche Bescheidenheit
und das Schweigen der Ausgegrenzten", indem nach wie vor das
perspektivische Ziel genannt bleibt, aber gleichzeitig auch reale
Zwischenschritte angegeben werden auf dem Weg zu einer gerechteren
Gesellschaft.
"Weil im Grunde klar ist, daß in jeder Gesellschaft gearbeitet
werden muß, um die materiellen, sozialen und kulturellen
Bedürfnisse aller Menschen befriedigen zu können, geben wir auch
den Anspruch nicht auf, diese Arbeit gemeinsam mit allen Menschen
selbst zu organisieren. Die Produktion muß an den Bedürfnissen der
ProduzentInnen orientiert sein. In unserer Forderung nach
Existenzgeld ist deshalb die nach gesellschaftlicher Aneignung der
Arbeit enthalten.
Wir verstehen unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht nur
den "normalen" Produktions- und Dienstleistungsbetrieb, sondern
auch die gesamte unbezahlte "private" Reproduktionsarbeit ...
Untrennbar damit verbunden ist die Forderung nach einer radikalen
Arbeitszeitverkürzung, damit der Anspruch auf gerechte Verteilung
für alle gelten kann."
Ein wichtiges Ziel der Forderung nach Existenzgeld ist es, die
Spaltung innerhalb der Armutsbevölkerung und zwischen Erwerbslosen
und ArbeitnehmerInnen aufzuheben. Denn ohne deren gemeinsame Kraft
wird es keine grundlegenden sozialpolitischen Veränderungen
geben.
"Notwendig ist deshalb ein Existenzgeld als Sockel, dessen Höhe
unabdingbar über den derzeitigen Sozialhilfesätzen zu liegen hat.
Für Personen, die in ihrer zurückliegenden Erwerbsarbeit in die
Sozialversicherungen einbezahlt haben, erhöht sich dieser Betrag
anteilig um die Summe, die ihnen ohnehin aus ihren Beiträgen
zufließen würde. BezieherInnen von Niedrigeinkommen steht eine
Aufstockung in Höhe des Existenzgeldes zu. Dies wird sowohl durch
Sozialversicherungsbeiträge als auch durch eine Umverteilung von
Steuereinnahmen realisiert. Das Existenzgeld hätte die Funktion
einer Mindestrente, eines Mindestlohns, eines Mindesteinkommens aus
Lohnersatzleistungen und der Hilfe zum Lebensunterhalt; es gilt
auch als Mindestkrankengeld. Dies betrifft all diejenigen, die
nicht lohnabhängig waren, die über ein Niedrigeinkommen verfügen
oder bei denen die Leistungen aus der Sozialversicherung unter dem
Existenzminimum liegen. Für diesen Personenkreis fordern wir
darüber hinaus den Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel und
Bildungs und -Kultureinrichtungen sowie die übernahme von
Zuzahlungen bei ärztlicher Behandlung. Als Zwischenschritt halten
wir bereits heute die Sockelung durch ein so gestaltetes
Existenzgeld für realisierbar." Eine Verwirklichung der letzten
Forderung bedingt allerdings eine breite soziale Bewegung, die
durch einen Druck von außen die etablierten Parteienstrukturen und
die traditionellen Formen öffentlicher Willensbildung zum Wanken
bringen.
Der Anspruch auf Existenzgeld dient auch als "ein solidarisches
Angebot" an alle ArbeitnehmerInnen, denn es schützt vor
Lohndrückerei und Streikbrecherdienste und reduziert den Zwang,
schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen.
Darüberhinaus bietet es die Möglichkeit, ohne materiellen Druck,
über eine andere Form der Organisation und Bewertung von Arbeit
eine gesellschaftliche Debatte zu beginnen.
In diesem Zusammenhang festigten die unabhängigen
Erwerbsloseninitiativen im Januar 1999 in Bad Bevensen nochmals
ihre Position zum Existenzgeld "als Stachel, der die
Ungerechtigkeit in Frage stellt,
- daß Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe ausschließlich an die Lohnarbeit gekoppelt wird, obwohl immer weniger Menschen eine bekommen können,
- daß die Arbeit, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren könnte, wie Hausarbeit, Kindererziehung, Wiederherstellung der Arbeitskraft, überhaupt nicht bezahlt wird, obwohl sie einen größeren Anteil hat als Lohnarbeit,
- daß die "Bewertung" eines Menschen ausschließlich über seine Lohnarbeit, sein Einkommen und seinen Konsum bestimmt wird, obwohl darüber Konkurrenz, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zwischen die Menschen gebracht wird statt Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Toleranz."
Kritische Anmerkungen zur Forderung nach Existenzgeld
Die im Zusammenhang mit dem Kongreß in Berlin geäußerten bzw.
veröffentlichten Kritiken haben die Diskussion über Existenzgeld
einen weiten Schritt nach vorne gebracht. Auch dort, wo sie
unangemessen scharf formuliert, oder ohne Kenntnis der Broschüre
der Erwerbsloseninitiativen vorgetragen wurde, hat sie dennoch zu
einer Bewegung innerhalb der in den letzten Jahren stagnierenden
Debatte geführt. Denn die Protagonisten des Existenzgeldes waren
gezwungen ihre eigenen Argumentationslinien inhaltlich zu
überprüfen.
Bereits einige Zeit vor dem Kongreß äußerte sich Karl-Heinz Roth
zum politischen Stellenwert der Existenzgeldforderung. Er stand
Anfang der Achtziger Jahre in engem Kontakt zu Erwerbslosen- und
JobberInnengruppen im Raum Hamburg und griff auch kurze Zeit in die
damals dort stattfindende inhaltliche Diskussion über materielle
Absicherung ein. In einem 1998 erschienenen Interview bezieht er
Stellung: "Ich möchte den Erwerbsloseninitiativen nicht ihre
Legitimation absprechen und in einer fatalen alten linken Tradition
über sie herfallen. Das ist nicht mein Anliegen. Dennoch erscheint
mir das Konzept theorielos. In Deutschland besteht die Möglichkeit,
daß die Forderung nach einem Existenzgeld in ein
sozialdemokratisch-grünes Projekt integriert wird ... Das bedeutet
eine neue Politik der Armut."
Ob sich Karl-Heinz-Roth im heutigen zugegeben unübersichtlichen
Geflecht der theoretischen und praktischen Aktivitäten der
Arbeitslosengruppen auskennt sei dahingestellt. Zumindest läßt sich
von Seiten der Erwerbsloseninitiativen dagegenhalten, dass sie sich
über längere Zeit intensiv mit gesellschaftlichen Entwicklungen
auseinandergesetzt haben. Inhaltliche Produkte dieser Zeit waren
u.a. die Analyse der bestehenden Arbeitsverhältnisse, der
weltweiten ökonomischen Veränderungen, der sozialen
Sicherungssystemen, der Entwicklung innerhalb der Sozialhilfe, der
Zunahme von erzwungenen Arbeitseinsätzen und der darüber
organisierten möglichen Etablierung eines autoritären Staates. Die
Ergebnisse dieser Debatte galten nie als abgeschlossen, sondern
sollten immer wieder auf ihre Argumentationskraft und ihre
politische Umsetzungsfähigkeit überprüft werden.
Roth selbst hat noch vor einigen Jahren ähnliche Positionen
vertreten, wie die Erwerbsloseninitiativen. Damals sah er die
Forderung nach einem garantierten Einkommen als Garant zur
Homogenisierung des Widerstandes gegen Sozialabbau. Als drei Stufen
der Massenverarmung nannte er die "unbezahlte Zwangsarbeit",
"minimale Existenzsicherung durch Sozialknete" und "prekäre
Maloche". Genauere Untersuchungen über deren Entwicklung und
Wechselbeziehung mahnte er an (diese Arbeiten wurden von einem Teil
der Initiativen auch vorangetrieben und fanden schließlich
Verwendung bei der Formulierung des Anspruches auf
Existenzgeld).
Um die von ihm beschriebenen Kampfbereiche zu verbinden,
postulierte er eine übergreifende existenzsichernde
Einkommensgrenze, "die das Existenzrecht aller Einkommenslosen
unabhängig von irgendwelchen Formen von Arbeit oder Zwangsarbeit
sicherstellt."
Warum Roth sich von dieser Position abgewandt hat, bleibt
zuminderst der öffentlichkeit verborgen.
Manche der im Zusammenhang mit dem Berliner Kongreß
vorgebrachten Kritiken entstammen meines Erachtens der Unkenntnis
über die Existenzgeldforderung der Erwerbsloseninitiativen und
deren Kämpfe für eine existenzielle Absicherung. So z.B. die
Behauptungen Existenzgeld könne nur eine Mindestsicherung sein , es
ließe sich so ziemlich alles damit in Verbindung bringen , es hätte
Nebenwirkungen in Form erzwungener Arbeitseinsätzen oder die GRüNEN
würden ebenfalls Existenzgeld fordern .
Nach Auffassung der Erwerbsloseninitiativen, nachzulesen in der
Existenzgeldbroschüre aus dem Jahre 1996, muß ein Existenzgeld eine
"wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum" statt einer
"Teilhabe am Existenzminimum" bedeuten, unabhängig von
Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur
Arbeit. Bereits aus dieser Grobbestimmung läßt sich erkennen, daß
sich mit diesem Anspruch nicht "alles in Verbindung bringen" läßt
und schon gar nicht die Konzepte der etablierten politischen
Parteien.
Weitere Kritiken beziehen sich darauf, daß die Forderung nach
Existenzgeld in das bürgerliche Sozialsystem integrierbar sei, sie
mit zu einer kapitalistischen Modernisierung beitrage , sie
staatsorientiert sei und damit reformistisch und sie nicht an reale
Kämpfe anknüpfe .
Diese hier von mir nur angedeuteten Kritikpunkte verdeutlichen
einerseits einen großen Diskussionsbedarf und andererseits
offenbaren sie widersprüchliche Momente, die in einer Forderung
nach staatlicher Absicherung stecken.
Seitdem es eine kontinuierliche Massenarbeitslosigkeit gibt,
gibt es auch unterschiedlichste Zusammenschlüsse von Erwerbslosen.
Ihre Aktionen und Aktivitäten finden nicht immer den Weg an die
öffentlichkeit. Oft sind es individuelle Widerstandsweisen oder
kleinere und selten größere kollektive Protestformen, die nur
sporadisch von den Medien aufgenommen werden. Im Rahmen dieser
Kämpfe entwickelte sich die Existenzgeldforderung zu einem
zentralen Thema, sowohl bei den organisierten Erwerbslosen als auch
bei den SozialhilfebezieherInnen. Sie knüpft nicht nur an reale
Kämpfe an, sondern sie entstand aus dem Aufbegehren von Menschen
gegen Arbeitslosigkeit und Armut auf der Suche nach Alternativen
zur kapitalistischen Realität. Aber auch in anderen Bewegungen,
etwa während der letzten Studentenstreiks und in Teilen der
Gewerkschaft, spielt die Forderung nach Existenzgeld eine gewisse
Rolle. Daß der Versuch, zu einer umfassenden materiellen
Absicherung von Menschen außerhalb der Lohnarbeit zu gelangen,
nicht von heute auf morgen zu entscheiden ist, dürfte klar sein.
Der Weg dorthin hat mit vielen kleinen Erfolgen zu tun, die das
Bewußtsein schärfen können, daß auch Menschen ohne Lobby in der
Lage sind etwas zu erreichen. Allerdings ist die Form des
Widerstandes "von dem institutionellen Kontext, in dem die
Protestierenden leben und arbeiten, bestimmt." Und er ist auch
durch die existentielle Abhängigkeit beschränkt. Möglicher Protest
ist deshalb stark individualisiert und in der Regel unsichtbar,
insbesondere für eine öffentlichkeit, die gerade von
LeistungsbezieherInnen ein hohes Maß an Konformität erwartet.
Menschen begehren dort auf, wo sie eine soziale Rolle spielen,
also auf dem Sozialamt, dem Arbeitsamt oder dem Wohnungsamt. Aus
diesem Grund sind Forderungen dort an den Staat gerichtet, und sie
sind reformistisch, da es zuallererst um kleinste materielle
Verbesserungen oder ein würdevolleres Leben geht. Sie sind die
Voraussetzung einer möglichen breiteren und weitergehenden sozialen
Bewegung.
Existenzgeld bedeutet in diesem Zusammenhang die Perspektive einer
anderen Gesellschafts- und Regulationsform, die aber nur zu
erreichen ist auf der Grundlage vieler kleiner und großer Kämpfe.
In der Praxis könnte sie, im Sinne von Hirsch kapitalistische
Reformpolitik sein, "die notwendig etatistisch sein muß und die die
materiellen Bedingungen und Spielräume zu schaffen hat für die
Durchsetzung und Praktizierung alternativer Lebensformen, der
Erweiterung von Selbstverwaltung und Selbstorganisation sowie für
außerinstitutionelle politische Bewegung."
Und natürlich unterliegt jede politische Forderung der Möglichkeit
der Einbettung in eine kapitalorientierte Strategie. Entscheidend
ist, inwieweit eine Forderung das herrschende Bewußtsein umwälzen
kann, ob sie in der Lage ist, eine breite außerparlamentarische
Bewegung zu formieren und, ob sie substantiell eine darüber hinaus
weisende gesellschaftliche Perspektive enthält.
Die Kritik wird von der BAG-E aufgegriffen
In Folge des Kongresses in Berlin lebte auch die Diskussion über
Existenzgeld in der "Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger
Erwerbsloseninitiativen" wieder auf. Es zeigte sich schnell, daß
nicht alle von außen kommenden Kritiken nur eines Nichtwissens über
die veröffentlichte Existenzgeldbroschüre geschuldet waren. Denn
einige Ausführungen in dieser Schrift sind widersprüchlich oder
nicht genügend durchdacht. Sie sind theoretischer Ausdruck eines
langjährigen Versuches auf Bundesebene, ohne starres
Organisationsschema, einen strömungsübergreifenden Zusammenschluß
aller Arbeitslosengruppen zu gewährleisten (zur damaligen Zeit
hauptsächlich kirchliche, gewerkschaftliche und unabhängige
Gruppen). Mittlerweile existiert dieser Anspruch nicht mehr, es
haben sich in den letzten Jahren mehrere überregionale
Arbeitslosenzusammenschlüsse gegründet, ein gemeinsamer
inhaltlicher Zusammenhalt wird nicht mehr benötigt.
Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung hat die BAG-Erwerbslose
eine Arbeitsgruppe 'Existenzgeld' eingesetzt, um auf der Basis der
vorhandenen Kritikpunkte einzelne Abschnitte der
Existenzgeldbroschüre zu überdenken und, falls nötig, neu zu
formulieren.
Im wesentlichen geht es um den Vorwurf einer nur ungenügend
geleisteten grundsätzlichen Kritik an der Lohnarbeit sowie der
Feststellung, das ein Existenzgeld auch immer nur aus
Ausbeutungsverhältnissen stammen kann , damit die kapitalistische
Verfaßtheit der Geldform ignoriert werde und so die Forderung nach
einer gerechte Verteilung von Reichtum zu einer Anerkennung der
kapitalistischen Produktionsweise beitrage.
Ein genereller Widerspruch bei der Begründung zum Existenzgeld
besteht darin, daß zwar einerseits die Unmöglichkeit der
Verwirklichung der Existenzgeldforderung unter den gegebenen
kapitalistischen Verhältnissen erklärt wird, aber gleichzeitig
Existenzgeld als Sockelung in Form einer ausreichenden Mindesrente,
Mindestlohn usw. plötzlich doch reale Züge erhält. Dahinter dürfte
das Problem stehen, daß es im Vorfeld der inhaltlichen Debatte zum
Existenzgeld Anfang der Neunziger Jahre ein zu geringes Bemühen um
eine Kritik der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit gegeben hatte.
Eine bloße "Infragestellung" reichte weder aus, eine Kritik der
Lohnarbeit als Produktions- und Reproduktionsweise kapitalistischer
Gesellschaften zu leisten, noch darüber zu sinnieren, wie denn eine
darüber hinaus gehende Gesellschaftsform mit der Arbeit zurecht
kommt. Ein Mitarbeiter in der AG-Existenzgeld drückt es so aus:
"Doch der spezifische Inhalt der Lohnarbeit wird nirgends wirklich
benannt: die Produktion des abstrakten Reichtums in seiner einzig
angemessenen Form, dem Geld, die Verwertung des Werts, die
schrankenlose Akkumulation von Kapital als Selbstzweck, woraus auch
resultiert, daß Menschen im Kapitalismus nur interessieren als
Träger von Arbeitskraft, also als das Kapital vermehrende,
verwertende Potenz."
Aufgrund einer solcherart fehlenden Analyse läßt sich auch keine
klare Aussage zu den Fragen finden, was den nun "gesellschaftlich
notwendige Arbeit" ist, wie ihr Spezifikum im Kapitalismus zu
benennen wäre und welche andere Art der Arbeit in einer
vorgestellten zukünftigen Gesellschaft möglich ist.
Ein weiteres zentrales Problem in den Ausführungen zum
Existenzgeld ergibt sich aus der textlichen Vermischung von Utopie
und Realität. Den AutorInnen ist es nicht immer gelungen, beide
Ebenen getrennt voneinander zu behandeln. Aus diesem Grund gelang
es ihnen auch nicht in genügender Schärfe den gesellschaftlichen
Reichtum als spezifisch kapitalistischen Reichtum zu
identifizieren. Wer auf dem Boden kapitalistischer Produktionsweise
Forderungen aufstellt muß natürlich, selbst bei erfolgreichen
Kämpfen, davon ausgehen, daß deren Verwirklichung mit materiellen
Mitteln aus verschiedensten Ausbeutungsverhältnissen realisiert
werden. Die Bezeichnung solcher Forderungen mit dem Begriff
Existenzgeld, so wie ihn die Erwerbsloseninitiativen mit Inhalt
besetzt haben, ist falsch oder zumindest mißverständlich, da
Existenzgeld als systemsprengende Forderung, insbesondere für eine
nachkapitalistische Zeit gemeint ist.
Stattdessen scheint mir die Bezeichnung "garantiertes Einkommen",
die jetzige Phase des Kampfes um materielle Existenzsicherung
besser zu kennzeichnen.
Wie im Schaubild am Ende des Textes zu verdeutlichen ist, könnten
als "realistische" Forderungen, angesichts von ökonomischer
Ausbeutung, geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung,
Arbeitslosigkeit und Armut, ein garantiertes Einkommen unter den
Bedingungen der ausreichenden Existenzsicherung, ohne Arbeitszwang
und unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand,
gefordert werden. Eine garantiertes Einkommens als Sockel hätte die
Funktion eines Mindestlohnes, einer Mindestrente usw.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es vieler kleiner Kämpfe, die
sich in den substantiellen Forderungen der Erwerbsloseninitiativen
widerspiegeln und es bedarf der utopischen Forderung nach
Existenzgeld, das ohne grundlegende Veränderung der Produktions-
und Reproduktionsebene niemals Wirklichkeit werden kann. Das eine
wird ohne das andere nicht möglich sein. Ohne konkrete
Auseinandersetzungen vor Ort mit zu verwirklichenden Forderungen,
wird es niemals ein Bewußtsein oder eine Basis für eine breite
Bewegung zum Existenzgeld geben. Gleichzeitig werden diese
Aktivitäten in plattesten Reformismus abgleiten, wenn sie nicht von
einem utopischen Gedanken getragen sind.
Um es noch einmal zu betonen:
Existenzgeld, so wie wir es uns vorstellen, ist unter den
aktuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht realisierbar.
Aber es ist ein Ansatzpunkt, um genau über diese gesellschaftlichen
Verhältnisse zu diskutieren und Veränderungsansätze zu
problematisieren. Im Sinne von Bordieus Weckung einer "neuen
Geisteshaltung in den Bürgern" umfaßt die Vision der Möglichkeit
eines anderen Lebens, bei gleichzeitigem Kampf für die Umsetzung
der Forderungen von Erwerbslosen.
Ob mit der in Berlin erhobenen 1500 DM Forderung für alle
(monatlich plus Warmmiete) nicht doch Illusionen in ein anderes
Sozialversicherungssystem auf kapitalistischer Grundlage erzeugt
wird, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Unter den
vorgefundenen ökonomischen und politischen Bedingungen ist sie
selbst ein utopischer Anspruch, der allenfalls in seiner
Provokation etwas bewegen kann.
In beiden Fassungen der Existenzgeldbroschüre wird keine genaue
Zahl genannt. Ich selbst sehe das Existenzgeld als perspektivischen
Weg hin zu einer anderen Gesellschaft (die bisher allerdings nur
sehr unzureichend skizziert wurde), mit der Absicht der eigenen
überflüssigmachung. Der politische Weg dorthin führt über viele
Forderungen und Kämpfe gegen Arbeitslosigkeit und Armut und für ein
garantiertes Einkommen.
Wie sinnvoll es ist, für eine Einkommensgarantie unter
kapitalistischen Vorzeichen eine genaue Zahl anzugeben (wie sie
z.B. von der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen"
(BAG-SHI) entwickelt wurde) bedarf sicherlich noch einiger
Diskussionen. Als unverhandelbare Masse gilt, daß ein garantiertes
Einkommen in ausreichender Höhe erfolgen muß, unabhängig von
Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur
Arbeit.
Das sich in diese Richtung etwas bewegt, zeigen auch die
Aktivitäten der Erwerbslosen in Italien, Spanien, Frankreich und
anderen europäischen Ländern für das Recht auf ein Einkommen. Hier
liegen gemeinsame Ansatzpunkte, die das Bewußtsein vieler sozialer
Akteure verändern kann und die neue "Solidaritätsprinzipien"
hervorbringen könnte.
Eine europäische Sozialbewegung, wie sie Bordieu vorschwebt, kann
nicht "aus dem Modell der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts
entwickelt werden", zu tiefgreifend sind die Veränderungen in den
Arbeits- und Sozialstrukturen vorangeschritten. "Beim Aufbau der
neuen europäischen Sozialbewegung ist es die vordringlichste
Aufgabe, sich von den alten Denkgewohnheiten freizumachen. Die
wachsende gesellschaftliche Unsicherheit zwingt uns dazu, ganz neue
Denkweisen und Aktionsformen zu entwickeln."
Existenzgeld versteht sich in diesem Sinne als
Diskussionsangebot, aber auch als konkrete Kampfansage an ein
Gesellschaftssystem, in dem die Ausbeutung von Arbeitskraft,
Arbeitslosigkeit und Armut die Stützpfeiler des gesellschaftlichen
Reichtums darstellen.