Existenzgeld als gesammtgesellschaftliches Konzept gegen Armut

Texte zum Existenzgeld - Geschichte


Kapitel I aus dem Buch "Existenzgeld"
von Peter Krebs und Harald Rein

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EXISTENZGELD! -
Zur Geschichte einer Forderung

(Harald Rein)

Inhalt:


Einleitung

Wer zum ersten mal von der Forderung nach Existenzgeld hört, denkt nicht selten an eine der vielen Konzepte zur Mindest- oder Grundsicherung, wie sie in mannigfaltiger Variantenbreite von Unternehmerverbänden bis zur PDS in die öffentlichkeit lanciert werden. Sie alle bauen ihre Vorschläge auf der Grundlage der bestehenden sozialen Sicherungssysteme mit ihren knapp bemessenen Ressourcen, ihren sozialen Ausschließungsfaktoren, wie Bedürftigkeitsprüfungen, und ihrer Verbindung zum Zwang zur Arbeit auf.
Daß es sich beim Existenzgeld gerade nicht um eine systemimmanente Konzeption handelt, die mit den in den Medien und in unzähligen Veröffentlichungen dargelegten Vorstellungen kompatibel ist, wird erst bei genauerem Einblick in die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Forderung nach Existenzgeld deutlich.
Diese inhaltlichen Mißverständnisse waren es auch, die auf der "Arbeitskonferenz für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung" im März 1999 in Berlin für reichhaltige Verwirrung sorgten.
Bereits die einleitende Podiumsdiskussion wurde von einem Wirrwarr an Meinungen über das vorgegebene Konferenzthema bestimmt. Unübersehbar war die mangelnde Kenntnis der meisten Vortragenden über die ursprüngliche Existenzgeldforderung der Erwerbsloseninitiativen. So konnten munter Behauptungen aufgestellt, Vergleiche gezogen und Einschätzungen gegeben werden, die eher zur theoretischen Konfusion, denn zu einer produktiven Diskussion beitrugen. Dennoch gingen von diesem Kongreß auch inhaltliche Impulse aus, wie aus den Beiträgen des vorliegenden Buches nicht unschwer zu erkennen ist.

Auch wenn bereits seit Februar 1992 und überarbeitet seit Dezember 1996 ein Positionspapier der "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut" (BAG-Erwerbslose) zum Existenzgeld vorliegen, ist es den Erwerbsloseninitiativen nicht gelungen, ihre Inhalte und Forderungen einer breiteren öffentlichkeit zu offerieren. Erst in letzter Zeit ergab sich ein Diskussionsinteresse über das aktive Erwerbslosenspektrum hinaus.

Im folgenden möchte ich einen Einblick in die Entstehungsbedingungen der und die weitere Entwicklung zur Existenzgeldforderung geben. Im letzten Drittel meines Aufsatzes beschäftige ich mich mit einigen KritikerInnen des Existenzgeldes und versuche deutlich zu machen, an welchen inhaltlichen Punkten weiter diskutiert werden könnte.
Wenn ich von Existenzgeld rede, so meine ich die seit 1982 in einer sehr begrenzten öffentlichkeit diskutierte und seit 1992 formulierte Forderung der organisierten Erwerbsloseninitiativen . Meines Wissens gibt es sonst keine ausgearbeitete Position, die unter diesem Namen firmiert

Vorläufer

Es mag überraschen, daß bereits Anfang der Achtziger Jahre, als das Nachdenken über Alternativen zum kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkt in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielte, Erwerbslose eine materielle und soziale Grundsicherung zum Thema ihrer Tagungen erhoben. Dies entsprach sehr wenig dem allgemeinen Bild des gedemütigten, verzweifelten oder niedergeschlagenen Erwerbslosen, der ohne gesicherten Arbeitsplatz in eine unsichere Zukunft zu blicken hat.
Tatsächlich gibt es weder ein einheitliches Verhalten der Betroffenen auf langandauernden Arbeitsplatzverlust, noch läßt sich wissenschaftlich genau voraussehen in welcher Weise Arbeitslose ihren Alltag bewältigen. "Die betroffenen Menschen erlebten und erleben Erwerbslosigkeit nicht nur als Resignation, Apathie oder Krankheit, sondern auch als politischen und persönlichen Selbstfindungsprozeß sowie als Möglichkeit, vorhandene Aktivitäten zu intensivieren bzw. neue zu entfalten. Sie werden mit einer ungewohnten, Unsicherheit produzierenden Situation konfrontiert, die sie zwingt, Lebensvorstellungen neu zu überdenken und zu realisieren."
In diesem Zusammenhang spielen besonders die Auswirkungen sozialer Strukturen und die Einwirkungen staatlicher Bürokratien eine prägende Rolle, ebenso wie die Fähigkeit und Möglichkeit kollektiver Deutungsinterpretationen der eigenen sozialen Situation. Hier können sich einige günstigere Voraussetzungen der Erwerbslosen gegenüber den Arbeitnehmern zeigen. Das disziplinierende Band einer unter Umständen lebenslangen Betriebszugehörigkeit, mit einer darauf aufbauenden arbeitsmoralisch geprägten Lebensperspektive und einem den kapitalistischen Gesetzen gehorchenden und reformistisch geprägten Verteilungskampfbewußtsein, fällt für einen Teil der zur Arbeitslosigkeit gezwungenen oder in die Arbeitslosigkeit freiwillig gegangenen weg. Ihre Sichtweise ist eher darauf gerichtet, über den eigenen sozialen Tellerrand hinweg zu sehen, ihr Ziel muß nicht die um jeden Preis zu erfolgende Reintegration in die Arbeitswelt sein. Ihr Status und ihre Erfahrungen können sowohl den Blick offenlegen für das Erkennen von Ungerechtigkeiten, wie auch für die Möglichkeit, Grenzen vorgegebener gesellschaftlicher Realitäten zu überwinden und zu einer Utopiefindung zu kommen. Diese Radikalität unter Erwerbslosen findet sich in allen industriellen Epochen des Kapitalismus.
Aus diesen Gründen kam der Impuls zur Formulierung einer systemsprengenden, egalitären Forderung nach Existenzgeld nicht von Seiten einer hauptsächlich auf Lohnarbeit ausgerichteten Arbeiterbewegung, sondern aus dem Ideenspektrum von Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Besonders sogenannte JobberInnengruppen ergriffen Anfang der Achtziger Jahre die politische Initiative. Ausgehend von den in dieser Zeit aufkeimenden autonomen Arbeiterkämpfen in Deutschland versuchten sie politische Anknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Widerstandslinien innerhalb und außerhalb der Fabriken zu finden. "Einerseits benutzen immer mehr Leute das Jobben als Möglichkeit, sich dem Arbeitszwang zeitweise zu entziehen, andererseits produzieren die Kapitalisten immer mehr mobile Arbeitskraft, um den von der Klasse erkämpften Status Quo anzugreifen. Uns als Jobber zu organisieren, heißt beides einander zu konfrontieren; heißt, den Faden: Septemberstreiks, Jugendzentrumsbewegung und den Fabrikarbeiterkämpfen weiterzutreiben; heißt, unsere Geschichte der Arbeitsverweigerung dem kapitalistischen Projekt des Arbeitszwangs entgegenzusetzen." Andere Jobbergruppen suchten gemeinsame Handlungsstrategien mit Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen, die besonders im nordeutschen Raum in dieser Zeit vielfältige Aktionen z.B. vor und in Arbeits- bzw. Sozialämtern organisierten, sich aber auch theoretisch mit gesellschaftsverändernden Forderungen auseinandersetzten. In wieweit die "italienische Diskussion" über "politischen Lohn" hierbei eine wesentliche Rolle spielte läßt sich nicht klar erkennen. Gewisse übereinstimmungen, auch wenn selbstredend die ökonomische und soziale Situation in Italien nicht einfach übertragbar waren, sind aber nicht zu leugnen. 1970 schreibt die in der Theoriebildung, aber auch in den praktischen Kämpfen maßgebliche Gruppe "Lotta Continua" über ihre Forderungen: "Das allgemeine dieser Ziele ist der Lohn für Arbeitslose - für die ständig sowie für die vorübergehend Arbeitslosen -, der ihnen die Lebensmöglichkeit sichert. Die Forderung nach Arbeitsplätzen und die Konkurrenz zwischen Arbeitern ist ein Problem für den, der um Ausbeutung und Arbeitslosigkeit feilschen will."
Im Klartext bedeutet dies den Bruch mit der traditionellen Vorstellung des Kampffeldes Betrieb als ausschließlich gesellschaftliche Veränderungsebene und mit dem hauptsächlich aus Gewerkschaftskreisen kommenden Ruf nach einem Recht auf Arbeit. Kaum Einfluß hatten Stimmen, wie die von Günther Anders, der einen Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung zu erkennen glaubte. "Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also um so weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer Gesellschaft ist ... Man kann nicht höchste Rationalisierung, die die Zahl der erforderten Arbeiter senkt, und Vollbeschäftigung zugleich auf Programm setzen." In Deutschland wurde die Debatte von der Redaktion "Autonomie" aufgegriffen. Als Ausgangspunkt der überlegung für einen "politischen Lohn" wurde die Aufhebung der Funktion der Erwerbslosigkeit als Druckmittel gegenüber den Beschäftigten genannt. Dies funktioniere nur dort, wo "der Arbeitslose noch an die Fabrik gebunden bleibt, seine Arbeitslosenunterstützung vom Fabriklohn herleitet (und) wenn er den Lohn immer noch als äquivalent für seine produktive Leistung sieht." Dagegen gelte es , eine "revolutionäre Strategie der Arbeitslosigkeit" zu setzen. Eckpfeiler hierfür könnten die "Loslösung des Lohns von der Produktivität, der 'politische Lohn' als Macht, der Kampf um mehr gesellschaftlichen Reichtum bei weniger Arbeit" und "die Artikulation von Bedürfnissen unabhängig von der Leistung" sein. Die Forderung nach einem "garantierten Lohn" stellte erstmals in der Arbeiterbewegungsgeschichte die Solidarität mit den Erwerbslosen außerhalb einer zwangsweisen Lohnarbeiterexistenz. Als Lösung wurde nicht die traditionelle Ausweitung des Arbeitsplatzangebotes verlangt, sondern die gerechte Verteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums an Beschäftigte und Nichtbeschäftigte.
Spätere Initiativen der Erwerbslosen entwickelten, auch ohne gründliche Kennntnisnahme dieser bewegten Zeit, auf Grundlage objektiver gesellschaftlicher Veränderungen und subjektiv bestimmter Handlungsmöglichkeiten den eigenständigen Gedanken nach einem Existenzgeld.


Der Kongress 1982

Tosender Beifall begleitete die Berichterstatterin der Arbeitsgruppe VIII zum "Begriff der Arbeit", als sie die Ergebnisse ihrer Diskussionen auf dem Abschlußplenum vortrug. Wir schreiben das Jahr 1982 und befinden uns auf dem 1. Arbeitslosenkongreß in Frankfurt/M.
Nach Jahren kontinuierlicher Arbeitslosigkeit, mit der Bildung von Arbeitslosengruppen in vielen Städten und Landkreisen in Deutschland, formulierte sich ein starkes Bedürfnis nach bundesweiter Zusammenarbeit und öffentlicher Präsenz. Resultat war die Organisierung des Frankfurter Kongresses.
Die damals, besonders in sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kreisen, vorherrschende Forderung nach einem "Recht auf Arbeit" stieß auf breite Kritik bei den VertreterInnen der unabhängigen Erwerbslosen- und Jobberinitiativen. Für sie endete das "Recht auf Arbeit" in eine Lohnarbeit um jeden Preis. Stattdessen forderten sie ein Recht auf eine gesicherte Existenz für alle.
"Offenbar ist Arbeit nur dann Arbeit, wenn sie Profit einbringt und systemstabilisierend ist. Wir müssen unserer Meinung nach neu darüber nachdenken, was wir, wie wir und unter welchen Bedingungen wir produzieren wollen ... Wir sollten unseren neuen Begriff von Arbeit auch politisch offensiv vertreten. Wenn Umweltschützer die Startbahn West verhindern, dann ist das Arbeit; wenn "Arbeitslose" sich in Arbeitsloseninitiativen zusammenschließen, dann ist das Arbeit; wenn Hausfrauen einen Fleischboykott organisieren, für mehr Kindergartenplätze demonstrieren, ist das Arbeit. Nur - und das ist das Dilemma - dafür kriegen wir keine Knete... Sollten wir deshalb aus dem Reich dieser Ideen wieder auf den Boden der unerfreulichen Tatsachen herabsteigen?"
Ein Teil der KongreßteilnehmerInnen fühlte sich eher den Auffassungen Paul Lafargues verbunden, der bereits 1848 ironisch schrieb: "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen."
Die Auseinandersetzung über den herrschenden Arbeitsbegriff bzw. der real existierenden Lohnarbeit durchlief den gesamten Kongreß und war Grundlage der später konzipierten Forderung nach einem Existenzgeld.
Die soziale Realität von prekär Beschäftigten (die damals als JobberInnen durchaus bewußt in solcherart Tätigkeiten eintauchten) sowie eines Teils der Erwerbslosen ließ den eigenen politischen Blickwinkel auf Alternativen jenseits der Lohnarbeit, aber auch jenseits des traditionellen Klassenkampfes zu. Dies auch deshalb, weil Forderungen der Erwerbslosen in Tarifauseinandersetzungen oder Streiks nirgends eine Rolle spielten, während umgekehrt Arbeitslose in nicht wenigen Fällen praktische Solidaritätsarbeit zur Unterstützung von Arbeitskämpfen leisteten.
Provokativ und selbstbewußt setzte die Hamburger "Initiative Arbeitsloser-Sozialhilfeempfänger-Jobber-Ausländer" gegen den Anspruch nach Arbeit für alle, die Forderung: " Wir wollen 1500 DM für Alle (mit Inflationsausgleich und keine faulen Tricks)." Erstmals stellten Erwerbslose das eherne Gesetz des Arbeitens um jeden Preis in Frage und traten mit einer Forderung an die öffentlichkeit, die die bisherigen Diskussionen zum Thema Arbeitslosigkeit und Armut durcheinanderwirbelten. Aber bereits diese Provokation nach 1500 DM ohne lohnzuarbeiten beinhaltete, neben der Kritik an der kapitalistischen Arbeit, auch einen systemsprengenden Aspekt, denn weitergedacht bedeutete diese Forderung eine grundlegende Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse, in Verbindung mit der kollektiven Inanspruchnahme des bisher individuell angeeigneten Reichtums. Dieser Anspruch auf das gesellschaftliche Ganze prägte die weitere Diskussion innerhalb der Erwerbsloseninitiativen bis heute und drückte sich 1985 auf den "Zentralen Aktions- und Konferenztagen" der norddeutschen und westberliner Erwerbslosen-Initiativen in Hamburg so aus:
"1. Sind wir nicht länger bereit, das derzeit herrschende System des Lohnarbeitszwangs zu akzeptieren, das uns unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit jede Form und Bezahlung der Arbeit zumuten will, die sich die Unternehmen einfallen lassen!
2. Sind wir nicht länger bereit, bei unserer Forderung nach einem menschenwürdigen Leben Rücksicht auf den Bestand und die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu nehmen. Wenn das System in seiner heutigen Form die Sicherung unser Existenz nicht aushält, dann muß es verändert werden!"
Für die damals im norddeutschen Raum sehr aktiven Erwerbslosen- und Jobbergruppen hatte die Existenzgeldforderung auch eine praktische Aussage. "Als unmittelbare Umsetzungsschritte wurde die konsequente Ausnutzung aller staatlichen Transferleistungen ('vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte') ebenso vorgeschlagen wie direkte Aneignungsaktionen: Selbstbedienung in Supermärkten oder am Arbeitsplatz, Nulfahraktionen in öffentlichen Einrichtungen und Schwarzfahren oder auch Versicherungsbetrug, eigenständige Mietkürzungen und Stromklau."
Ihre Kämpfe für ein "besseres Leben" verdeutlichten am besten, das der Existenzgeldforderung innewohnende dialektische Verhältnis. Einerseits die mögliche Entkoppelung von Arbeit und Einkommen sowie die Gleichwertigkeit von Lohn- und Haus/Reproduktionsarbeit unter dem Blickwinkel der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft voranzutreiben und andererseits die Forderung "als praktische Aneignungsbewegung" zu verstehen.


Frauen mischen sich ein

Starker inhaltlicher Einfluß auf die Formulierung der Existenzgeldforderung entsprang auch aus Diskussionsbeiträgen von Teilen der sozial engagierten Frauenbewegung. Bereits in den Debatten während des ersten Bundeskongresses stellten insbesondere Frauen den gängigen Arbeitsbegriff radikal in Frage und forderten eine eigenständige finanzielle Absicherung.
In den darauf folgenden Jahren trafen sich zwischen 1983 und 1987 auf verschiedenen bundesweiten Treffen erwerbslose Frauen, um ihren spezifischen Interessen und Forderungen Geltung zu verschaffen. Ein inhaltlicher Schwerpunkt hierbei war der Kampf gegen die Bedürftigkeitsprüfung bei Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die u.a. zu einer Verfestigung der finanziellen und sozialen Abhängigkeiten von Frauen gegenüber ihren erwerbstätigen Männern führt, die die beruflichen Tätigkeiten der Frauen in Haus-, Kinder- und Beziehungsarbeit nicht anerkennt und somit die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zementiert. Diese Impulse nahm der zweite Bundeskongreß der Arbeitslosen 1988 auf und organisierte eine bundesweite Kampagne gegen Bedürftigkeitsprüfung.
Ein weiteres Arbeitsfeld erwerbsloser Frauen war die Auseinandersetzung mit der Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Nichtanerkennung häuslicher Arbeit und die finanziellen Abhängigkeiten von Männern, gerieten die unterschiedlichen Möglichkeiten der eigenständigen materiellen Absicherung in das Blickfeld der Frauen. Ihr damaliges Resumee war zwiespältig. Mindesteinkommensmodelle in Form der negativen Einkommenssteuer oder der Sozialdividente lehnten sie ab, ebenso die Vorschläge von Opielka und Gorz, da zum einen die Höhe des garantierten Einkommens so niedrig angesetzt wurde, das von einer "garantierten" Armut gesprochen werden konnte und das in keinem der Vorschläge die Besonderheit von Frauenarbeit Anerkennung fand. Die Frage stellte sich zwingend: "Wie kann es ein 'Recht auf Einkommen' anstatt eines 'Rechts auf Arbeit' geben, so lange es kein Recht auf Einkommen für Arbeit gibt?"
Selbst einem in der Höhe akzeptableren Mindesteinkommen standen die Fraueninitiativen skeptisch gegenüber. "Ein regelmäßiges garantiertes Einkommen für Nicht-Erwerbstätige ändert per se nichts an der Tatsache, daß die Haus- und Kinderarbeit überwiegend in den Händen der Frauen liegt. Im Gegenteil, es kann die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau zu Lasten der Frauen sogar festigen. Sie ist leichter ideologisch zu rechtfertigen, denn die Frauen verfügen dann über eigenes Geld. Wozu sollen sie also noch eine Ausbildung absolvieren und außerhäuslich arbeiten? Frauen werden wie gehabt auf die klassischen weiblichen Arbeiten und Werte verwiesen, während die (noch) geschützten Erwerbsarbeitsplätze im sogenannten formellen Bereich nach wie vor den Männern vorbehalten bleiben..." Ein Hinweis, der auch später während der Existenzgeldformulierung eine Rolle spielte: formale radikale Umwälzungen im ökonomischen reichen nicht aus, wenn nicht auch das Bewußtsein jedes Einzelnen die Notwendigkeit eines theoretischen und praktischen Umdenkens nachvollzieht.
Trotz dieser Kritiken sahen die an der Diskussion beteiligten Fraueninitiativen auch Vorteile eines Mindesteinkommens, denn bei ausreichender Höhe könnte sich die finanzielle Situation von Frauen verbessern. Voraussetzung wäre allerdings die "Gewährung von Sozialleistungen nach dem absoluten Indivdualprinzip. D. h. Zahlungen müssen ohne 'Bedürftigkeitsprüfungen' an die einzelne Person gehen und nicht etwa - wie von vielen Mindesteinkommensbefürwortern gefordert wird - an den Haushalt oder die Familie genauer an den - soweit vorhanden - männlichen Haushaltsvorstand. Es muß ein Rechtsanspruch auf das Mindesteinkommen bestehen, ohne irgendwelche Wenn und Aber." Durch eine ausreichende materielle Absicherung bzw. auch durch eine Debatte darüber, könnte die herrschende Arbeitsbegrifflichkeit kritisch hinterfragt werden und "die patriarchale Trennung zwischen unbezahlter (Frauen-)Arbeit und bezahlter (Männer-)Arbeit aufgeweicht werden." ähnlich wie in der Diskussion über das Existenzgeld begriffen die Frauen, daß sie mit ihren weitergehenden Forderungen, wie etwa das die unbezahlte Frauenarbeit sozialversicherungspflichtig bezahlt werden muß, das der Zwang zur Erwerbsarbeit abgeschafft werden muß, daß es trotzdem jeder(m)möglich sein muß, eine gesicherte Existenz zu haben, daß jede Frau eigenständige Ansprüche haben kann usw. außerhalb des gesellschaftlich Machbaren standen. "Wir greifen damit die Grundpfeiler eines gesellschaftlichen Systems an, das seinen Reichtum vor allem auf der überausbeutung der Frauen hier und in der sogenannten 3. Welt aufbaut." Und auch die damals vorgeschlagenen 1600 DM pro Monat für jede und jeden zeigten hauptsächlich auf, was erforderlich und möglich wäre, aber unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht realisierbar erschienen. Solcherart Forderungen sollten deutlich machen: "Es geht uns um eine tiefgreifende Verbesserung der ökonomischen Situation der Frauen und um den Angriff auf die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und die kapitalistische Warenwirtschaft."
Etliche Ergebnisse der Diskussionen in diesen Jahren fanden später auch Einzug in die Formulierung eines Existenzgeldes. Es ist sicherlich diesen Fraueninitiativen zu verdanken, daß eine der zentralen Forderungen, die nach der "Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung" ist und das für die Begründung eines Existenzgeldes auf erarbeitete Inhalte dieser Zeit zurück gegriffen wurde: "Wir verstehen unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht nur den 'normalen' Produktions- und Dienstleistungsbetrieb, sondern auch die gesamte unbezahlte 'private' Reproduktionsarbeit. Sie umfaßt u.a. die Erziehungs- und Hausarbeit, die Arbeit in Initiativen, Nachbarschaftshilfe, kulturelle Arbeit, gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Beratung. Existenzgeld bedeutet für uns die individuelle Absicherung, um diese notwendigen Arbeiten auf freiwilliger Basis machen zu können. Wir wollen diese Arbeiten nicht auch noch in 'Lohnarbeitsverhältnisse' zwingen und womöglich damit ihre geschlechtsspezifische Verteilung festschreiben."


Die 13 Thesen

Mehrere Faktoren beschleunigten einige Jahre später die inhaltliche Konzipierung einer existenziellen Absicherung durch die Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut (heute: Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen)BAG-Erwerbslose.
Je dauerhafter die Massenerwerbslosigkeit anhielt, desto deutlicher wurde die Unmöglichkeit des kapitalistischen Systems, jedem Menschen im erwerbsfähigen Alter einen angemessenen Arbeitsplatz oder zumindest eine menschenwürdige materielle Absicherung zu garantieren, und um so häufiger wurde eine Lebensperspektive in Frage gestellt, die ausschließlich die Lohnarbeit als Sinn des Lebens akzeptiert. Hinzu kam das Ende des "Realsozialismus" und der Beginn des "Umbaus" des bundesdeutschen Sozialstaates. Altes mußte neu diskutiert werden und Neues genau analysiert werden. Der Sturz des DDR-Regimes wurde in der öffentlichkeit gleichgesetzt mit dem Scheitern von gesellschaftlicher Phantasie und Utopiedenken. Das Nachdenken über Alternativen zu dem Bestehenden galt als antiquiert, Utopien als für immer diskreditiert.
In dieser vorherrschenden Stimmungslage bezogen die organisierten Erwerbsloseninitiativen Position gegen den allgemeinen Trend, nur noch Realpolitik auf der Basis kapitalistischer Entwicklung zu akzeptieren. Die BAG entschloß sich, ihre Einschätzung, auch in Abgrenzung zu realpolitischen Ansätzen von seiten der Parteien, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, zu formulieren. Die "13 Thesen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten" wurden im Februar 1992, nach langem Diskussionsprozeß, verabschiedet. Sie verdeutlichen in ihrem Kern, daß unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen eine Verwirklichung eines Existenzgeldes unmöglich ist. Sie zeigen aber auch gleichzeitig auf, daß die materielle Voraussetzung für eine existenzielle Absicherung für alle vorhanden ist und es politisch entschieden bzw. erkämpft werden muß, wie der gesellschaftliche Reichtum eingesetzt wird. Aus diesem Grunde wurde auch keine konkrete Zahl oder ein besonderer Berechnungsmodus über die Höhe eines Existenzgeldes angegeben.
An fünf Punkten unterscheidet sich der Charakter des Existenzgeldes von herkömmlichen sozialpolitischen Mindestsicherungskonzepten:

  • in der Anspruchshöhe des Existenzgeldes (wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, statt Teilhabe am Existenzminimum),
  • in der Entkoppelung des Existenzgeldes vom Zwang zur Lohnarbeit,
  • in der Infragestellung der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit,
  • in der Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und
  • in der Gültigkeit des Existenzgeldes für alle hier Lebenden.
Der hier formulierte Anspruch auf grundlegende politische und ökonomische Veränderung fehlt in allen sonstigen Mindestsicherungs oder -bedarfsorientierten Konzepten.
Als wichtig wurde die Hervorhebung einer politischen und sozialen Utopie von Emanzipation und Befreiung von Herrschaft erachtet. Diese schließt die Art und Weise, wie die Arbeit organisiert ist und was für wen produziert wird, mit ein. Die Orientierung der Produktion an den Bedürfnissen der Produzenten und damit die gesellschaftliche Aneignung der Arbeit erhielt einen besonderen Stellenwert.
Der Anspruch auf Existenzgeld soll für alle hier lebenden Menschen, gleichgültig welcher Nationalität sie angehören und unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, gelten.
Die Erfahrungen mit dem Existenzgeldpapier in der öffentlichkeit zeigten, wie wichtig es war, zum damaligen Zeitpunkt den utopischen Charakter der Forderung herauszustellen. Denn es handelte sich weniger um einen direkten praktischen Kampf zur Verwirklichung der Existenzgeldforderung, als vielmehr um einen Vorstoß in das politisch verkrustete Bewußtsein verschiedener Bevölkerungsschichten. Der theoretische Erklärungsansatz für Existenzgeld umfaßt eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung, in der, trotz hoher Unternehmensgewinne, Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse als Ausdruck kapitalistischer Profitlogik dominieren und, in der es auf diesem Hintergrund um neue Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen geht. Als sozialpolitische Utopie strebt sie die Aufhebung der Spaltungen innerhalb der Armutsbevölkerung (in Arbeitslose, SozialhilfebezieherInnen, NiedriglöhnerInnen, RentnerInnen usw.) an, als provokative Forderung verdeutlicht sie, das auch gegessen werden darf, ohne sich dem kapitalistischen Verwertungsprinzip unterwerfen zu müssen und als aufklärerische Komponente beinhaltet sie die Aussage, daß Lohnarbeit kein unveränderbares Schicksal darstellt.
Losgelöst vom "(Lohn)-Arbeitswahn" werden auch traditionell vermittelte politische und soziale Erfahrungswerte obsolet: das kapitalistische Wachstumsmodell, die Rolle der Arbeiterklasse als hauptsächliche Kraft für eine gerechte Gesellschaft und die positive Rolle von Parteien oder Wahlen im Zusammenhang mit der Sicherung der Interessen von Arbeitslosen und SozialhilfebezieherInnen.
Und es kann ungeniert ein Anspruch auf den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum erhoben werden, zumal er nur unter Mithilfe der Armen, Arbeitslosen und Ausgebeuteten solche Dimensionen erreichen konnte.


Die 10 Positionen

Einige Jahre später war dieser politische Ansatz, ausschließlich auf eine vermeintlich bessere Zukunft zu verweisen, allerdings nicht mehr ausreichend. Denn unberücksichtigt blieb der innerhalb der Erwerbsloseninitiativen vorhandene vielfältige Erfahrungsschatz in bezug auf konkrete politische Inhalte und Forderungen. In einer aktualisierten Auflage wurden diese Einsichten und Kenntnisse als Verbindungsglieder zwischen Gegenwart und Zukunft integriert.
Im Dezember 1996 veröffentlichte die BAG eine überarbeitete Fassung unter dem Titel "10 Positionen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten", indem nach wie vor das perspektivische Ziel genannt bleibt, aber gleichzeitig auch reale Zwischenschritte angegeben werden auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft.
"Weil im Grunde klar ist, daß in jeder Gesellschaft gearbeitet werden muß, um die materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse aller Menschen befriedigen zu können, geben wir auch den Anspruch nicht auf, diese Arbeit gemeinsam mit allen Menschen selbst zu organisieren. Die Produktion muß an den Bedürfnissen der ProduzentInnen orientiert sein. In unserer Forderung nach Existenzgeld ist deshalb die nach gesellschaftlicher Aneignung der Arbeit enthalten.
Wir verstehen unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht nur den "normalen" Produktions- und Dienstleistungsbetrieb, sondern auch die gesamte unbezahlte "private" Reproduktionsarbeit ... Untrennbar damit verbunden ist die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, damit der Anspruch auf gerechte Verteilung für alle gelten kann."
Ein wichtiges Ziel der Forderung nach Existenzgeld ist es, die Spaltung innerhalb der Armutsbevölkerung und zwischen Erwerbslosen und ArbeitnehmerInnen aufzuheben. Denn ohne deren gemeinsame Kraft wird es keine grundlegenden sozialpolitischen Veränderungen geben.
"Notwendig ist deshalb ein Existenzgeld als Sockel, dessen Höhe unabdingbar über den derzeitigen Sozialhilfesätzen zu liegen hat. Für Personen, die in ihrer zurückliegenden Erwerbsarbeit in die Sozialversicherungen einbezahlt haben, erhöht sich dieser Betrag anteilig um die Summe, die ihnen ohnehin aus ihren Beiträgen zufließen würde. BezieherInnen von Niedrigeinkommen steht eine Aufstockung in Höhe des Existenzgeldes zu. Dies wird sowohl durch Sozialversicherungsbeiträge als auch durch eine Umverteilung von Steuereinnahmen realisiert. Das Existenzgeld hätte die Funktion einer Mindestrente, eines Mindestlohns, eines Mindesteinkommens aus Lohnersatzleistungen und der Hilfe zum Lebensunterhalt; es gilt auch als Mindestkrankengeld. Dies betrifft all diejenigen, die nicht lohnabhängig waren, die über ein Niedrigeinkommen verfügen oder bei denen die Leistungen aus der Sozialversicherung unter dem Existenzminimum liegen. Für diesen Personenkreis fordern wir darüber hinaus den Nulltarif für öffentliche Verkehrsmittel und Bildungs und -Kultureinrichtungen sowie die übernahme von Zuzahlungen bei ärztlicher Behandlung. Als Zwischenschritt halten wir bereits heute die Sockelung durch ein so gestaltetes Existenzgeld für realisierbar." Eine Verwirklichung der letzten Forderung bedingt allerdings eine breite soziale Bewegung, die durch einen Druck von außen die etablierten Parteienstrukturen und die traditionellen Formen öffentlicher Willensbildung zum Wanken bringen.

Der Anspruch auf Existenzgeld dient auch als "ein solidarisches Angebot" an alle ArbeitnehmerInnen, denn es schützt vor Lohndrückerei und Streikbrecherdienste und reduziert den Zwang, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen. Darüberhinaus bietet es die Möglichkeit, ohne materiellen Druck, über eine andere Form der Organisation und Bewertung von Arbeit eine gesellschaftliche Debatte zu beginnen.
In diesem Zusammenhang festigten die unabhängigen Erwerbsloseninitiativen im Januar 1999 in Bad Bevensen nochmals ihre Position zum Existenzgeld "als Stachel, der die Ungerechtigkeit in Frage stellt,

  • daß Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe ausschließlich an die Lohnarbeit gekoppelt wird, obwohl immer weniger Menschen eine bekommen können,
  • daß die Arbeit, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren könnte, wie Hausarbeit, Kindererziehung, Wiederherstellung der Arbeitskraft, überhaupt nicht bezahlt wird, obwohl sie einen größeren Anteil hat als Lohnarbeit,
  • daß die "Bewertung" eines Menschen ausschließlich über seine Lohnarbeit, sein Einkommen und seinen Konsum bestimmt wird, obwohl darüber Konkurrenz, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zwischen die Menschen gebracht wird statt Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Toleranz."

Kritische Anmerkungen zur Forderung nach Existenzgeld

Die im Zusammenhang mit dem Kongreß in Berlin geäußerten bzw. veröffentlichten Kritiken haben die Diskussion über Existenzgeld einen weiten Schritt nach vorne gebracht. Auch dort, wo sie unangemessen scharf formuliert, oder ohne Kenntnis der Broschüre der Erwerbsloseninitiativen vorgetragen wurde, hat sie dennoch zu einer Bewegung innerhalb der in den letzten Jahren stagnierenden Debatte geführt. Denn die Protagonisten des Existenzgeldes waren gezwungen ihre eigenen Argumentationslinien inhaltlich zu überprüfen.
Bereits einige Zeit vor dem Kongreß äußerte sich Karl-Heinz Roth zum politischen Stellenwert der Existenzgeldforderung. Er stand Anfang der Achtziger Jahre in engem Kontakt zu Erwerbslosen- und JobberInnengruppen im Raum Hamburg und griff auch kurze Zeit in die damals dort stattfindende inhaltliche Diskussion über materielle Absicherung ein. In einem 1998 erschienenen Interview bezieht er Stellung: "Ich möchte den Erwerbsloseninitiativen nicht ihre Legitimation absprechen und in einer fatalen alten linken Tradition über sie herfallen. Das ist nicht mein Anliegen. Dennoch erscheint mir das Konzept theorielos. In Deutschland besteht die Möglichkeit, daß die Forderung nach einem Existenzgeld in ein sozialdemokratisch-grünes Projekt integriert wird ... Das bedeutet eine neue Politik der Armut."
Ob sich Karl-Heinz-Roth im heutigen zugegeben unübersichtlichen Geflecht der theoretischen und praktischen Aktivitäten der Arbeitslosengruppen auskennt sei dahingestellt. Zumindest läßt sich von Seiten der Erwerbsloseninitiativen dagegenhalten, dass sie sich über längere Zeit intensiv mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandergesetzt haben. Inhaltliche Produkte dieser Zeit waren u.a. die Analyse der bestehenden Arbeitsverhältnisse, der weltweiten ökonomischen Veränderungen, der sozialen Sicherungssystemen, der Entwicklung innerhalb der Sozialhilfe, der Zunahme von erzwungenen Arbeitseinsätzen und der darüber organisierten möglichen Etablierung eines autoritären Staates. Die Ergebnisse dieser Debatte galten nie als abgeschlossen, sondern sollten immer wieder auf ihre Argumentationskraft und ihre politische Umsetzungsfähigkeit überprüft werden.
Roth selbst hat noch vor einigen Jahren ähnliche Positionen vertreten, wie die Erwerbsloseninitiativen. Damals sah er die Forderung nach einem garantierten Einkommen als Garant zur Homogenisierung des Widerstandes gegen Sozialabbau. Als drei Stufen der Massenverarmung nannte er die "unbezahlte Zwangsarbeit", "minimale Existenzsicherung durch Sozialknete" und "prekäre Maloche". Genauere Untersuchungen über deren Entwicklung und Wechselbeziehung mahnte er an (diese Arbeiten wurden von einem Teil der Initiativen auch vorangetrieben und fanden schließlich Verwendung bei der Formulierung des Anspruches auf Existenzgeld).
Um die von ihm beschriebenen Kampfbereiche zu verbinden, postulierte er eine übergreifende existenzsichernde Einkommensgrenze, "die das Existenzrecht aller Einkommenslosen unabhängig von irgendwelchen Formen von Arbeit oder Zwangsarbeit sicherstellt."
Warum Roth sich von dieser Position abgewandt hat, bleibt zuminderst der öffentlichkeit verborgen.

Manche der im Zusammenhang mit dem Berliner Kongreß vorgebrachten Kritiken entstammen meines Erachtens der Unkenntnis über die Existenzgeldforderung der Erwerbsloseninitiativen und deren Kämpfe für eine existenzielle Absicherung. So z.B. die Behauptungen Existenzgeld könne nur eine Mindestsicherung sein , es ließe sich so ziemlich alles damit in Verbindung bringen , es hätte Nebenwirkungen in Form erzwungener Arbeitseinsätzen oder die GRüNEN würden ebenfalls Existenzgeld fordern .
Nach Auffassung der Erwerbsloseninitiativen, nachzulesen in der Existenzgeldbroschüre aus dem Jahre 1996, muß ein Existenzgeld eine "wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum" statt einer "Teilhabe am Existenzminimum" bedeuten, unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur Arbeit. Bereits aus dieser Grobbestimmung läßt sich erkennen, daß sich mit diesem Anspruch nicht "alles in Verbindung bringen" läßt und schon gar nicht die Konzepte der etablierten politischen Parteien.

Weitere Kritiken beziehen sich darauf, daß die Forderung nach Existenzgeld in das bürgerliche Sozialsystem integrierbar sei, sie mit zu einer kapitalistischen Modernisierung beitrage , sie staatsorientiert sei und damit reformistisch und sie nicht an reale Kämpfe anknüpfe .
Diese hier von mir nur angedeuteten Kritikpunkte verdeutlichen einerseits einen großen Diskussionsbedarf und andererseits offenbaren sie widersprüchliche Momente, die in einer Forderung nach staatlicher Absicherung stecken.

Seitdem es eine kontinuierliche Massenarbeitslosigkeit gibt, gibt es auch unterschiedlichste Zusammenschlüsse von Erwerbslosen. Ihre Aktionen und Aktivitäten finden nicht immer den Weg an die öffentlichkeit. Oft sind es individuelle Widerstandsweisen oder kleinere und selten größere kollektive Protestformen, die nur sporadisch von den Medien aufgenommen werden. Im Rahmen dieser Kämpfe entwickelte sich die Existenzgeldforderung zu einem zentralen Thema, sowohl bei den organisierten Erwerbslosen als auch bei den SozialhilfebezieherInnen. Sie knüpft nicht nur an reale Kämpfe an, sondern sie entstand aus dem Aufbegehren von Menschen gegen Arbeitslosigkeit und Armut auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Realität. Aber auch in anderen Bewegungen, etwa während der letzten Studentenstreiks und in Teilen der Gewerkschaft, spielt die Forderung nach Existenzgeld eine gewisse Rolle. Daß der Versuch, zu einer umfassenden materiellen Absicherung von Menschen außerhalb der Lohnarbeit zu gelangen, nicht von heute auf morgen zu entscheiden ist, dürfte klar sein. Der Weg dorthin hat mit vielen kleinen Erfolgen zu tun, die das Bewußtsein schärfen können, daß auch Menschen ohne Lobby in der Lage sind etwas zu erreichen. Allerdings ist die Form des Widerstandes "von dem institutionellen Kontext, in dem die Protestierenden leben und arbeiten, bestimmt." Und er ist auch durch die existentielle Abhängigkeit beschränkt. Möglicher Protest ist deshalb stark individualisiert und in der Regel unsichtbar, insbesondere für eine öffentlichkeit, die gerade von LeistungsbezieherInnen ein hohes Maß an Konformität erwartet.
Menschen begehren dort auf, wo sie eine soziale Rolle spielen, also auf dem Sozialamt, dem Arbeitsamt oder dem Wohnungsamt. Aus diesem Grund sind Forderungen dort an den Staat gerichtet, und sie sind reformistisch, da es zuallererst um kleinste materielle Verbesserungen oder ein würdevolleres Leben geht. Sie sind die Voraussetzung einer möglichen breiteren und weitergehenden sozialen Bewegung.
Existenzgeld bedeutet in diesem Zusammenhang die Perspektive einer anderen Gesellschafts- und Regulationsform, die aber nur zu erreichen ist auf der Grundlage vieler kleiner und großer Kämpfe. In der Praxis könnte sie, im Sinne von Hirsch kapitalistische Reformpolitik sein, "die notwendig etatistisch sein muß und die die materiellen Bedingungen und Spielräume zu schaffen hat für die Durchsetzung und Praktizierung alternativer Lebensformen, der Erweiterung von Selbstverwaltung und Selbstorganisation sowie für außerinstitutionelle politische Bewegung."
Und natürlich unterliegt jede politische Forderung der Möglichkeit der Einbettung in eine kapitalorientierte Strategie. Entscheidend ist, inwieweit eine Forderung das herrschende Bewußtsein umwälzen kann, ob sie in der Lage ist, eine breite außerparlamentarische Bewegung zu formieren und, ob sie substantiell eine darüber hinaus weisende gesellschaftliche Perspektive enthält.


Die Kritik wird von der BAG-E aufgegriffen

In Folge des Kongresses in Berlin lebte auch die Diskussion über Existenzgeld in der "Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen" wieder auf. Es zeigte sich schnell, daß nicht alle von außen kommenden Kritiken nur eines Nichtwissens über die veröffentlichte Existenzgeldbroschüre geschuldet waren. Denn einige Ausführungen in dieser Schrift sind widersprüchlich oder nicht genügend durchdacht. Sie sind theoretischer Ausdruck eines langjährigen Versuches auf Bundesebene, ohne starres Organisationsschema, einen strömungsübergreifenden Zusammenschluß aller Arbeitslosengruppen zu gewährleisten (zur damaligen Zeit hauptsächlich kirchliche, gewerkschaftliche und unabhängige Gruppen). Mittlerweile existiert dieser Anspruch nicht mehr, es haben sich in den letzten Jahren mehrere überregionale Arbeitslosenzusammenschlüsse gegründet, ein gemeinsamer inhaltlicher Zusammenhalt wird nicht mehr benötigt.
Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung hat die BAG-Erwerbslose eine Arbeitsgruppe 'Existenzgeld' eingesetzt, um auf der Basis der vorhandenen Kritikpunkte einzelne Abschnitte der Existenzgeldbroschüre zu überdenken und, falls nötig, neu zu formulieren.
Im wesentlichen geht es um den Vorwurf einer nur ungenügend geleisteten grundsätzlichen Kritik an der Lohnarbeit sowie der Feststellung, das ein Existenzgeld auch immer nur aus Ausbeutungsverhältnissen stammen kann , damit die kapitalistische Verfaßtheit der Geldform ignoriert werde und so die Forderung nach einer gerechte Verteilung von Reichtum zu einer Anerkennung der kapitalistischen Produktionsweise beitrage.

Ein genereller Widerspruch bei der Begründung zum Existenzgeld besteht darin, daß zwar einerseits die Unmöglichkeit der Verwirklichung der Existenzgeldforderung unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen erklärt wird, aber gleichzeitig Existenzgeld als Sockelung in Form einer ausreichenden Mindesrente, Mindestlohn usw. plötzlich doch reale Züge erhält. Dahinter dürfte das Problem stehen, daß es im Vorfeld der inhaltlichen Debatte zum Existenzgeld Anfang der Neunziger Jahre ein zu geringes Bemühen um eine Kritik der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit gegeben hatte. Eine bloße "Infragestellung" reichte weder aus, eine Kritik der Lohnarbeit als Produktions- und Reproduktionsweise kapitalistischer Gesellschaften zu leisten, noch darüber zu sinnieren, wie denn eine darüber hinaus gehende Gesellschaftsform mit der Arbeit zurecht kommt. Ein Mitarbeiter in der AG-Existenzgeld drückt es so aus: "Doch der spezifische Inhalt der Lohnarbeit wird nirgends wirklich benannt: die Produktion des abstrakten Reichtums in seiner einzig angemessenen Form, dem Geld, die Verwertung des Werts, die schrankenlose Akkumulation von Kapital als Selbstzweck, woraus auch resultiert, daß Menschen im Kapitalismus nur interessieren als Träger von Arbeitskraft, also als das Kapital vermehrende, verwertende Potenz."
Aufgrund einer solcherart fehlenden Analyse läßt sich auch keine klare Aussage zu den Fragen finden, was den nun "gesellschaftlich notwendige Arbeit" ist, wie ihr Spezifikum im Kapitalismus zu benennen wäre und welche andere Art der Arbeit in einer vorgestellten zukünftigen Gesellschaft möglich ist.

Ein weiteres zentrales Problem in den Ausführungen zum Existenzgeld ergibt sich aus der textlichen Vermischung von Utopie und Realität. Den AutorInnen ist es nicht immer gelungen, beide Ebenen getrennt voneinander zu behandeln. Aus diesem Grund gelang es ihnen auch nicht in genügender Schärfe den gesellschaftlichen Reichtum als spezifisch kapitalistischen Reichtum zu identifizieren. Wer auf dem Boden kapitalistischer Produktionsweise Forderungen aufstellt muß natürlich, selbst bei erfolgreichen Kämpfen, davon ausgehen, daß deren Verwirklichung mit materiellen Mitteln aus verschiedensten Ausbeutungsverhältnissen realisiert werden. Die Bezeichnung solcher Forderungen mit dem Begriff Existenzgeld, so wie ihn die Erwerbsloseninitiativen mit Inhalt besetzt haben, ist falsch oder zumindest mißverständlich, da Existenzgeld als systemsprengende Forderung, insbesondere für eine nachkapitalistische Zeit gemeint ist.
Stattdessen scheint mir die Bezeichnung "garantiertes Einkommen", die jetzige Phase des Kampfes um materielle Existenzsicherung besser zu kennzeichnen.
Wie im Schaubild am Ende des Textes zu verdeutlichen ist, könnten als "realistische" Forderungen, angesichts von ökonomischer Ausbeutung, geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, Arbeitslosigkeit und Armut, ein garantiertes Einkommen unter den Bedingungen der ausreichenden Existenzsicherung, ohne Arbeitszwang und unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand, gefordert werden. Eine garantiertes Einkommens als Sockel hätte die Funktion eines Mindestlohnes, einer Mindestrente usw.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es vieler kleiner Kämpfe, die sich in den substantiellen Forderungen der Erwerbsloseninitiativen widerspiegeln und es bedarf der utopischen Forderung nach Existenzgeld, das ohne grundlegende Veränderung der Produktions- und Reproduktionsebene niemals Wirklichkeit werden kann. Das eine wird ohne das andere nicht möglich sein. Ohne konkrete Auseinandersetzungen vor Ort mit zu verwirklichenden Forderungen, wird es niemals ein Bewußtsein oder eine Basis für eine breite Bewegung zum Existenzgeld geben. Gleichzeitig werden diese Aktivitäten in plattesten Reformismus abgleiten, wenn sie nicht von einem utopischen Gedanken getragen sind.

Um es noch einmal zu betonen:
Existenzgeld, so wie wir es uns vorstellen, ist unter den aktuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht realisierbar. Aber es ist ein Ansatzpunkt, um genau über diese gesellschaftlichen Verhältnisse zu diskutieren und Veränderungsansätze zu problematisieren. Im Sinne von Bordieus Weckung einer "neuen Geisteshaltung in den Bürgern" umfaßt die Vision der Möglichkeit eines anderen Lebens, bei gleichzeitigem Kampf für die Umsetzung der Forderungen von Erwerbslosen.
Ob mit der in Berlin erhobenen 1500 DM Forderung für alle (monatlich plus Warmmiete) nicht doch Illusionen in ein anderes Sozialversicherungssystem auf kapitalistischer Grundlage erzeugt wird, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Unter den vorgefundenen ökonomischen und politischen Bedingungen ist sie selbst ein utopischer Anspruch, der allenfalls in seiner Provokation etwas bewegen kann.
In beiden Fassungen der Existenzgeldbroschüre wird keine genaue Zahl genannt. Ich selbst sehe das Existenzgeld als perspektivischen Weg hin zu einer anderen Gesellschaft (die bisher allerdings nur sehr unzureichend skizziert wurde), mit der Absicht der eigenen überflüssigmachung. Der politische Weg dorthin führt über viele Forderungen und Kämpfe gegen Arbeitslosigkeit und Armut und für ein garantiertes Einkommen.
Wie sinnvoll es ist, für eine Einkommensgarantie unter kapitalistischen Vorzeichen eine genaue Zahl anzugeben (wie sie z.B. von der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen" (BAG-SHI) entwickelt wurde) bedarf sicherlich noch einiger Diskussionen. Als unverhandelbare Masse gilt, daß ein garantiertes Einkommen in ausreichender Höhe erfolgen muß, unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur Arbeit.
Das sich in diese Richtung etwas bewegt, zeigen auch die Aktivitäten der Erwerbslosen in Italien, Spanien, Frankreich und anderen europäischen Ländern für das Recht auf ein Einkommen. Hier liegen gemeinsame Ansatzpunkte, die das Bewußtsein vieler sozialer Akteure verändern kann und die neue "Solidaritätsprinzipien" hervorbringen könnte.
Eine europäische Sozialbewegung, wie sie Bordieu vorschwebt, kann nicht "aus dem Modell der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts entwickelt werden", zu tiefgreifend sind die Veränderungen in den Arbeits- und Sozialstrukturen vorangeschritten. "Beim Aufbau der neuen europäischen Sozialbewegung ist es die vordringlichste Aufgabe, sich von den alten Denkgewohnheiten freizumachen. Die wachsende gesellschaftliche Unsicherheit zwingt uns dazu, ganz neue Denkweisen und Aktionsformen zu entwickeln."
Existenzgeld versteht sich in diesem Sinne als Diskussionsangebot, aber auch als konkrete Kampfansage an ein Gesellschaftssystem, in dem die Ausbeutung von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit und Armut die Stützpfeiler des gesellschaftlichen Reichtums darstellen.