Fortsetung von Gerhard Kratzat

Ich wußte bereits mit 9 Jahren, daß es in Deutschland KZ's gab.

Widerstand auch schon im 1. Weltkrieg

Hermann KnüfkenIn den Jahren 1935 bis 1936 kam es zu heftigen politischen Kontroversen in der ISH. Ende 1934 wurde Hermann Knüfken in Rotterdam verhaftet und nach Belgien abgeschoben. Er schloss sich der Antwerpener Gruppe an. Als deren Leiter Wilhelm Siebert Anfang 1935 verhaftet und in die Niederlande ausgewiesen wurde, übernahm Knüfken die Leitung.

Knüfken war eine sehr schillernde und verehrte Persönlichkeit in der internationalen Seeleutebewegung. 1893 in Düsseldorf geboren, leistete er bereits im 1. Weltkrieg Zersetzungsarbeit und desertierte zwischenzeitlich nach Dänemark. Ab Oktober 1917 saß er in Kiel im Zuchthaus, aus dem ihn die revolutionären Matrosen im November 1918 befreiten. Kurz darauf nimmt er am Umsturz in Brunsbüttelkoog teil und zieht dann nach Cuxhaven. Für seine Schiffsentführung im Jahre 1920, mit der er zwei Delegierte der KAPD (Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands) zum Kongress der Komintern nach Moskau brachte, wurde er von Lenin „Genosse Pirat“ genannt und anschließend in Deutschland zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Mai 1923 wurde er beurlaubt und ging nach Leningrad, wo er den dortigen Interclub leitete. Im Jahre 1929 wurde er verhaftet, aber aufgrund einer Demonstration ausländischer Seeleute in Leningrad nach zehn Monaten wieder freigelassen. 1932 kehrte er nach Hamburg zurück, im Mai 1933 floh er erst nach Kopenhagen, um dann die Leitung der ISH-Gruppe in Rotterdam zu übernehmen.

Ablösung von ISH und KPD

Im Frühjahr 1935 brach die Gruppe in Antwerpen die Zusammenarbeit mit der ISH ab, verstand sich als Initiative zum Wiederaufbau der Freien Gewerkschaften, konstituierte sich als Zelle innerhalb der KPD und verlangte von der Partei volle Mitsprache in Fragen der Seefahrt. Das wurde von der KPD abgelehnt, obwohl zugleich im Zuge der neu beschlossenen „Volksfrontpolitik“ auch die ISH aufgelöst und in die ITF überführt werden sollte.

Die Antwerpener lösten ihre Beziehungen zur KPD, verhandelten mit dem ITF-Generalsekretär Edo Fimmen und arbeiteten ab Januar 1936 als ITF-Gruppe weiter.(10)

Anfang 1936 wurde Gerhard Kratzat nach Antwerpen geschickt, um dort mit anderen eine neue Gruppe aufzubauen. Gleichzeitig verhandelte er mit Edo Fimmen über den übertritt der ISH-Mitglieder (11). Fimmen verlangte aber neben der Anerkennung der ITF-Richtlinien, wie zum Beispiel dem Verzicht auf Parteiarbeit in der ITF, auch eine Ehrenerklärung der neuen Mitglieder für Hermann Knüfken. Dies lehnten sie unter Hinweis auf Knüfkens Parteiausschluss ab. Nach der Auflösung der ISH versuchten Kratzat und seine Mitstreiter noch eine Zeit lang, ihre Arbeit unabhängig weiterzuführen und nannten sich wegen ihrem Festhalten an der alten KPD-Linie die „100%igen“.(12)

Spanischer Bürgerkrieg und Illegalität in Frankreich

St. Cyprien von Felix NussbaumVon 1937 bis nach Kriegsende 1939 hatte Gerhard Kratzat in Spanien im Bürgerkrieg leitende Funktionen in der nachrichtendienstlichen Tätigkeit der Gruppe "Seeschiffahrt" der KPD inne, unter anderem unternahm er bei der Zurückführung der Angehörigen des englisch-sprachigen Lincoln-Batallions wesentliche Tätigkeiten.(13)

Die Jahre 1939 bis 1944 in der Illegalität in Frankreich und Belgien liegen weitgehend im Dunkeln. Aus den Akten lässt sich lesen, dass Gerhard Kratzat am 11.1.1940 in Antwerpen und am 10.3.1944 in Paris verhaftet wurde. In der Urteilsbegründung des Feldgerichtes ist diese Zeit so dargestellt:

„Nachdem er in Antwerpen desertiert war und sich dort einige Zeit aufgehalten hatte, ging er nach Frankreich, wo er bei Kriegsausbruch interniert wurde. Dann liess er sich vom 2. Büro (14) anwerben und erhielt den Auftrag, in Hamburg Spionage zu betreiben. Es wurden ihm auch einige Tausend Frs. Zu diesem Zweck ausgehändigt. Er fuhr aber nur bis Antwerpen, wo er wegen Besitzes eines falschen Passes verhaftet und im April 1940 angeblich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Im Mai 1940 wurde er mit anderen Häftlingen in das Lager nach St. Ciprien gebracht, aus dem er im August 1940 entlassen wurde. Da er aber nicht nach Deutschland zurück wollte, wurde er nach dem Waffenstillstand mit Frankreich erneut festgenommen. Nachdem ihm 1941 bereits einmal die Flucht aus einem Lager gelungen war, konnte er im November 1942 wiederum entweichen und hielt sich seitdem bis Dezember 1943 in Toulouse auf.
Hier machte er im September 1943 die Bekanntschaft eines Bob D u r a n d , der eine führende Rolle in der Widerstandsbewegung MRPGD. (Mouvement de Resistance pour les Prisonniers de Guerre et Deportés) (15) spielte. Dieser verschaffte ihm eine falsche Ausweiskarte auf den Namen René Pierre Vanhaeren, geb. am 10.9.1911 in Dünkirchen, und veranlasste ihn, der Widerstandsbewegung beizutreten, nachdem er ihn über deren Ziele unterrichtet hatte.
Der Angeklagte hatte die Aufgabe, Auskünfte über die französischen Kriegsgefangenen- und Arbeitslager in Deutschland einzuholen und die eingehenden Nachrichten aufgrund seiner Kenntnisse als Reichsdeutscher zu sichten und zu bearbeiten. Unter den französischen Kriegsgefangenen in Deutschland sollte durch eine charitative Tätigkeit eine Bewegung geschaffen werden, die sich de Gaulle anschliessen sollte. Für seine Tätigkeit sollte der Angeklagte monatlich 4.000 frs. Erhalten. Mit der Arbeit sollte er Mitte Dezember 1943 in Lyon beginnen. Er erhielt auch von Durand für seine Reisen 2.000 frs. Und begab sich, da in Lyon keine Arbeitsmöglichkeit bestand und die Zentrale der Widerstandsbewegung inzwischen nach Paris verlegt worden war, am 24.2.1944 nach Paris. Die Bewegung wurde, ehe der Angeklagte mit seiner Arbeit beginnen konnte, durch Festnahme führender Persönlichkeiten in Lyon zerschlagen und der Angeklagte am 10.3.1944 in Paris verhaftet.

Verhaftung

Klaus Barby, der sog. "Schlächter von Lyon" bei seiner VerhaftungBei der Aushebung des Büro's der Organisation in Lyon wurden Kisten mit deutschfeindlichen Flugblättern, eine Anweisung zur Durchführung von Sabotage-Akten und fünf Bleistiftzünder gefunden.“ (16)

Kratzat selber stellte die Zeit in Frankreich in seinem Abschiedsbrief und in einem Brief an seinen Verteidiger so dar :

„Ich habe während der letzten zwei Jahre als Bildhauer gearbeitet, meine Skulpturen sind jedoch ein wenig zerstreut, und ich weiß nicht, ob man viel davon zusammenbringen kann... Ich habe meine psychologischen Studien fortgesetzt und habe umfangreiche Arbeiten zurückgelassen, die wahrscheinlich verloren gehen werden.“ und „Ich habe während vier langer Kriegsjahre versucht, illegal in Frankreich zu leben. Ich habe mich verhaften lassen, ich bin davongelaufen, wenn sich Gelegenheit bot, daß sind meine Verbrechen.“ (17)

Sicherlich war ihm bewusst, dass seine Post kontrolliert wurde, um möglicherweise Belastendes gegen ihn oder andere zu finden. Für seine Zusammenarbeit mit den französischen und/oder englischen Geheimdiensten spricht aber, dass die Gestapo ihn bereits 1940 als Kurier des englischen Geheimdienstes suchte, ihm Verbindungen zu französischen Offizieren nachsagte und in den Akten sechs verschiedene Identitäten aufzählte: neben Gerhard Kratzat: „Jan“, „Gerhard Matzat“, „Heinz Hinzmann“, „Erich Schmidt“.und „Gerhard Fallen“. (18) Auch Kratzats Bemerkung: „Wenn ein Engländer mir "Oxford" oder "Eton" sagt, bin ich mißtrauisch wie bei einer Einladung zum Pferderennen“ in seinem Abschiedsbrief deutet in diese Richtung.

Die Frage zu seiner politischen Stellung in oder zur KPD und warum er seine wahre Identität preisgab lässt sich nicht beantworten.

Johannes Gerhard Kratzat wurde vom Feldgericht des Hauptverbindungsstabes 590 in Lyon am 30.6.1944 wegen „Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt und am 12.7.1944 hingerichtet. In seinem zweiten Abschiedsbrief kurz vor seiner Ermordung schrieb er an seine Familie in Burg:

„Ihr Lieben! Es ist soweit. Ich rauche eine letzte Zigarette und sende Euch meine letzten herzlichen Grüße. Draußen scheint warm die Sonne, und ich habe den Eindruck, daß es gar nicht so schwer sein wird, hinauszutreten und ihre letzten Strahlen zusammen mit dem tödlichen Blei zu empfangen.

Ich danke Euch noch einmal für alles Gute, das Ihr mir erwiesen, für das Leben, das trotz aller Härten so golden, so sonnig war.

Ich sterbe ruhig, ich habe stets im Einklang mit mir selber gelebt, nie durch eine Lüge mir das Leben selbst erleichtert und zugleich vergällt. Das ist wohl das beste, das man von dem Leben erhoffen kann. Leider kann ich diesem Brief nicht die Arbeiten, denen ich diese letzten Jahre widmete, hinzufügen. Ich hätte Euch so gerne etwas hinterlassen, das Euch ein wenig mit Stolz erfüllt.

Was auch immer kommen mag, mir ist um Eure Zukunft, um Deutschlands Zukunft nicht bang. Ich hoffe, daß in den Brüdern und Schwestern alles fortleben wird, was uns lieb und teuer war.

Ein letztes inniges Gedenken und einen letzten Gruß an alle Freunde, die vielleicht nach dem Kriege um ein Lebenszeichen bitten.

Euer G e r h a r d .“

Nachwirkungen auf die Familie

Druckmaschine aus dem Museum der ResistanceSein Bruder Friedrich Wilhelm Kratzat, an den dieser Brief adressiert war, wurde nach der Hinrichtung trotz eines schweren Gehörschadens zum Heer einberufen und fiel am ersten Tage an der Front am 20.2.1945. Er war Pastor und Anhänger der „Bekennenden Kirche“. Der jüngere Bruder Otto Albert war bereits am 10.9.1942 an der Ostfront gefallen. (19)

Nach dem Ende der Naziherrschaft stellten Friedrich und Elisabeth Kratzat verschiedene Entschädigungsanträge. Zunächst wurde Johannes Gerhard Kratzat vom Kreissonderhilfsausschuss des Kreises Süderdithmarschen 1949 als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Die Eltern erhielten einen Vorschuss auf die OdN-Rente in Höhe von 100 DM. Das Land Schleswig-Holstein erkannte die politische Verfolgung 1950 zunächst an, lehnte aber eine Rentenzahlung wegen der fehlenden Bedürftigkeit der Eltern 1950 ab. Die Familie musste den Vorschuss in Raten zurückzahlen. 1951 starb Friedrich Kratzat. Die noch ausstehenden 75 DM Schulden wurden Elisabeth Kratzat gestundet. Ein neuer Antrag 1957 nach dem Bundesentschädigungsgesetz endete schließlich im Jahre 1960 mit einer erneutem Ablehnung, aber einem Vergleichsangebot des Landesentschädigungsamtes.

Nachdem ihre Mutter Elisabeth 1958 gestorben war, sollten die drei noch lebenden Kinder (Martin Kratzat, Lydia Döring und Lisa Reshöft) 1.200 DM erhalten, außerdem verzichtete das Land Schleswig-Holstein auf die noch ausstehende Restzahlung von 75 DM aus dem gezahlten Rentenvorschuss. Ob die Erben diese Angebot angenommen haben, lässt sich in den Akten nicht lesen, wohl aber das Resümee von Martin Kratzat :

am Cleve 5- heute Gartenstraße 17„Die Anträge habe ich vor annähernd 3 Jahren, als meine Mutter noch lebte, gestellt, um für meine Mutter Entschädigungsansprüche zu stellen. Bedauerlicherweise ist meine Mutter nicht mehr in den Genuß von Leistungen gekommen. Das ist so bedauerlich, wie nur irgendetwas sein kann. Noch zu Lebzeiten meines Vaters, der 1951 verstorben ist, war der erste Rentenantrag vom Gericht… als unbegründet zurückgewiesen worden und eine Vorschußleistung von insgesamt 100,-- DM, die ohne Anforderung geleistet wurde, mußte nachdem… zurückgezahlt werden. Dies hat meine Eltern so sehr verbittert, daß mein Vater noch vor der Tilgung des Vorschusses verstarb und meine Mutter nur widerwillig die Einwilligung zur erneuten Antragstellung gab. Den Glauben an die Erfüllung berechtigter Ansprüche für Nazigeschädigte durch unseren heutigen Staat haben meine Eltern restlos verloren. Ich kann ihnen das nicht verdenken. Mein Bruder wurde bereits vor 16 Jahren (1/2 Generation) erschossen. Mein Vater hat noch 7 Jahre danach und meine Mutter hat noch 14 Jahre danach gelebt und nicht ein roter Pfennig ist meinen Eltern zugekommen. … Das ist selbst für mich, der ich als Diener des Staates tätig bin, zu hoch. …

Ich habe mich längst damit abgefunden, daß man mir nicht alles glaubt, was ich aus den Jahren 1933 - 45 weiß und erlebt habe. Ich wußte bereits mit 9 Jahren, daß es in Deutschland KZ's gab. Es gibt aber mehr Leute in Deutschland zwischen 40 und 70 Jahren, die die Existenz der KZ's nicht wahr haben wollen, als welche die das zugeben. Wenn so ein Bearbeiter bei der Landesregierung sitzt und meine Anträge in die Hand bekommt, wird er vielleicht von mir noch eine Bescheinigung verlangen, daß mein Bruder in einem der KZ's unmenschlich behandelt wurde. Ich darf Ihnen wohl sagen, daß ich in einem Dienstzimmer bei der Landesregierung den damals zuständigen Bearbeiter beinahe geohrfeigt habe, nachdem er meinen Bruder einen "Landesveräter" genannt hat. Sie werden mir glauben, daß ich die Bearbeitung meiner Anträge bei der Landesregierung in "besten Händen" weiß.“ (20) noch was -->