Bundesagentur macht Druck auf Regionalbüros
Die Rekord-Arbeitslosenzahl könnte in den kommenden drei Monaten noch auf über 5,7 Millionen ansteigen.
In der Bundesagentur für Arbeit (BA) will man sich zwar nicht festlegen, schätzt allerdings, dass eine Zunahme der Februar-Zahl von 5,22 Millionen um 300 000 bis 500 000 möglich ist. Kompensiert werden könne das allein durch die jährlich wiederkehrenden Effekte der Frühjahrsbelebung, heißt es.
Die wahrscheinliche Zunahme der Arbeitslosenzahl liegt vor allem daran, dass es keine gesicherten statistischen Zahlen aus den bundesweit 69 Kommunen und Landkreisen gibt, die eigene Betreuungs- und Vermittlungscenter für Langzeitarbeitslose aufgebaut haben die so genannten Optionskommunen. Zwar sind diese Kommunen verpflichtet, bis zum 20. eines Monats ihre Daten (Arbeitslose, Vermittlungsergebnisse) per Datenleitung an die Zentrale in Nürnberg zu senden. Doch die Statistiker in der Bundesagentur können diese Angaben nicht bearbeiten. Dazu fehlt ihnen die entsprechende Software, wie die BA den betroffenen Kommunen jetzt mitgeteilt hat. Allein in Nordrhein-Westfalen werden dadurch 110 000 Arbeitslose mehr in der März- oder April-Statistik erwartet.
Zudem haben die Optionskommunen bis heute nur einen unvollständigen Überblick über die ihnen seit Januar zugeordneten Langzeitarbeitslosen.
Hintergrund dafür ist die Weigerung der Bundesagentur, den Kommunen per Internet die erforderlichen Unterlagen zuzusenden. Allein in dem optierenden Landkreis Oberhavel in Brandenburg kamen deshalb Anfang Januar 9000 Akten an, die jetzt erst einmal nach und nach per Hand in die Computer eingegeben werden müssen. Vor dem Sommer, heißt es im Landkreis Oberhavel, werde man keine wirklich belastbaren Zahlen melden können.
Weil sich die rot-grüne Koalition in Berlin einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahl vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht leisten kann, hat die Nürnberger Zentrale der Bundesagentur jetzt alle Regionaldirektionen angewiesen, sämtliche Daten von Beziehern des Arbeitslosengeldes II schnellstmöglichst zu überprüfen und deren Erwerbsfähigkeit zu untersuchen. In einer internen Anweisung der BA Zentrale heißt es dazu nach Informationen des Tagesspiegel, der Überprüfung sei „höchste Priorität einzuräumen“, sie müsse „bis zum 18. März 2005 abgeschlossen sein“.
Hintergrund der Anweisung: Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hat bereits vor Tagen Vermutungen geäußert, dass die Kommunen nicht nur arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger, sondern auch Kranke und Alte in die Arbeitsagenturen geschickt haben. Solche Menschen sind zwar nicht wirklich in Jobs vermittelbar, blähen allerdings die Arbeitslosenstatistik auf.
Clement und somit auch die Bundesagentur wollen nun erreichen, dass alle diese Menschen schnellstmöglich wieder zum Sozialamt verwiesen werden. Betroffen sind alle, die weniger als drei Stunden am Tag arbeiten können. Auch Langzeitarbeitslose, bei denen die Agenturen eine Berschäftigung innerhalb der nächsten sechs Monate nicht prognostizieren, werden wieder zum Sozialamt verwiesen.
Das betrifft nicht nur Kranke sondern etwa auch Alleinerziehende mit mehreren Kindern, wenn deren Betreuung nicht geregelt werden kann. Die Bundesagentur hat ihre Mitarbeiter angewiesen, bei Kranken ein amtsärztliches Zeugnis einzuholen, das eine Arbeitsfähigkeit bestätigt.
Für neue Verunsicherung bei allen Kommunen in Deutschland könnte eine weitere Anweisung der Bundesagentur sorgen. Darin heißt es, die Leistungen für Langzeitarbeitslose, bei denen sich herausstellt, dass sie doch nicht „erwerbsfähig“ sind, müssen von den Kommunen zurückgefordert werden. Wirtschaftsminister Clement hatte die Kommunen noch vor wenigen Tagen damit beruhigt, dass man in solchen Fällen keine finanziellen Rückforderungen stellen will. asi
Armutsbericht im Kabinett. Schere zwischen Arm und Reich wird größer.
Das Bundeskabinett hat den Armuts- und Reichtumsbericht von Bundessozialministerin Ulla Schmidt gebilligt. Der Untersuchung zufolge hat sich in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich seit dem Amtsantritt von Rot-Grün 1998 weiter geöffnet. So erhöhte sich der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von 12,1 Prozent im Jahr 1998 auf 13,5 Prozent im Jahr 2003. Von den Familien seien sogar 13,9 Prozent arm. In absoluten Zahlen ausgedrückt heißt das:
Mehr als elf Millionen Bundesbürger gelten als arm.
Der Bericht nennt Arbeitslosigkeit als Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung und unterstreicht die Bedeutung von Beschäftigung und Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass viele Reformen erst 2004 und 2005 greifen und sich daher noch nicht niedergeschlagen haben. "Deutschland ist ein reiches Land", der großen Mehrheit gehe es gut. Dennoch sei Armut kein Randphänomen, sondern könne auch die Mitte der Gesellschaft bedrohen.
Besser als der EU-Durchschnitt
Staatliche Leistungen wie Renten, Kindergeld, Bafög oder Sozialhilfe senkten das Armutsrisiko 2003 um zwei Drittel. Der Begriff Armutsrisiko bezeichnet den Anteil der Bürger in Haushalten, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Diese Grenze liegt derzeit bei 938 Euro.
Im internationalen Vergleich jedoch gehört Deutschland nach Dänemark und Schweden zu den EU-Ländern mit dem geringsten Armutsrisiko und liegt unter EU-Durchschnitt. Erwerbstätige, Selbstständige und ältere Menschen haben dem Bericht zufolge ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko, ebenso Paare mit zwei Kindern. Bei den über 65-Jährigen ging es entgegen dem allgemeinen Trend von 13,3 auf 11,4 Prozent zurück. Alleinerziehende dagegen stehen schlechter da.
Privatvermögen ungleich verteilt
Am anderen Ende der Skala wuchsen die Vermögen privater Haushalte weiter und erreichten dem Bericht zufolge 2004 eine Summe von fünf Billionen Euro. Das entspricht im Durchschnitt aller Haushalte 133.000 Euro. Von 1998 bis 2003 stieg das Nettovermögen nominal um 17 Prozent. Immobilien machen rund 75 Prozent des Gesamtvermögens aus. Der Ost-West-Unterschied wird allmählich kleiner.
Allerdings seien die Privatvermögen sehr ungleichmäßig verteilt, heißt es in dem Bericht. Während die unteren 50 Prozent der Haushalte weniger als vier Prozent des gesamten Nettovermögens besitzen, haben die reichsten zehn Prozent der Haushalte knapp 47 Prozent. Der Anteil dieses oberen Zehntels stieg von 1998 bis 2003 um zwei Prozent an.
Quelle: www.tagesschau.de; Stand: 02.03.2005 17:39 Uhr
Armutsbericht der Bundesregierung
Opposition sieht rot-grüne Politik gescheitert
Das Bundeskabinett hat den "Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung beschlossen. Danach ist das Armutsrisiko in Deutschland von 1998 bis 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen. Der Parlamentarische Staatssekretär im Sozialministerium, Franz Thönnes, nannte den Bericht "ehrlich in der Sache". Die Bundesregierung sage, "wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen wollen".
Opposition: Regierung ist gescheitert
CDU-Generalsekretär Volker Kauder kommentierte den Bericht mit den Worten: "Rot-Grün macht arm". Für den Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Röttgen, ist der Armutsbericht "ein trauriges Dokument des Scheiterns von Rot-Grün". Ohne mehr Arbeitsplätze sei das Problem Armut nicht in der Griff zu kriegen", sagte Röttgen der Nachrichtenagentur dpa. Deshalb brauche es eine offensive wirtschaftspolitische Strategie anstelle einer "reaktiven Transferpolitik", sagte der CDU-Politiker. Eine bloße Erhöhung der sozialen Transferleistungen führe nur zu einer weiteren Verschuldung, warnte Röttgen.
Die FDP macht die Politik der Bundesregierung für die wachsende Armut in Deutschland verantwortlich. "Die Bundesregierung ist in der Armutsbekämpfung gescheitert, weil sie in der Wirtschaftspolitik gescheitert ist", sagte der jugendpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Klaus Haupt. Rot-Grün verspreche seit Jahren mehr Arbeitsplätze und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sehe aber gleichzeitig dem Abbau entsprechender Angebote zu.
Keine Kindergartengebühren für Kinder aus armen Familien
Der Paritätische Wohlfahrtsverband bezeichnete den Bericht als ein "erschreckendes Dokument sozialer Zerrissenheit" und forderte rasche Konsequenzen. "Die Zahlen spiegeln in dramatischer Weise die wachsende Dynamik der gesellschaftlichen Spaltung wider: In wenigen Jahren hat sich der Schuldenstand der Ärmsten verdoppelt", sagte die Verbandsvorsitzende Barbara Stolterfoht. Dabei seien die Auswirkungen der Hartz-IV-Arbeitsmarktreform noch nicht einmal berücksichtigt.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) forderte Gebührenfreiheit im Kinderhort für alle Familien, die vom Arbeitslosengeld II leben müssen. Kinder aus armen Familien müssten früher und besser gefördert werden. Nur so sei der "Teufelskreis" von Bildungs- und finanzieller Armut zu durchbrechen, sagte die GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange