Martin Matthiessen; im Frieden gestorbener Massenmörder

Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Hauptverantwortlichen für die "Braune Pest" von weit her kamen, womöglich Ausländer waren. Auf keinen Fall kann so etwas hier in der Nähe aufgewachsen sein, unentdeckt von wachsamen Bürgerinnen und Bürgern. Rudolf Rietzler weist z.B. darauf hin, dass die von G. Stoltenberg dargestellte Version, dass wandernde Gärtnergehilfen und Landwirte die während ihrer Ausbildung in Süddeutschland mit dem Hitlergedanken in Kontakt gekommen seien, nicht stichhaltig wäre.1

Matthiessen ist am 26. Februar 1901 in Wesselburenerkoog als Sohn des Bauern August (geb. Wesselburener 21.01.1868) und seiner Ehefrau Auguste geb. Körner (geb. 23.12.1868) geboren und starb am 14. Mai 1990 in Meldorf). Er besuchte Volksschule und Mittelschule in Wesselburen mit anschließendem Examen in Heide/ Holstein, erlernte auf dem Hof des Vaters und anderen Höfen in Schleswig- Holstein den Beruf des Landwirts und besuchte anschließend die landwirtschaftliche Winterschule in Heide, war als Wirtschafter auf dem Gut Kaden b. Ulsburg tätig und pachtete einen Hof in Schülp.

12.01.1924 Eheschließung mit Annemarie Witt aus Hedwigenkoog.

1928 war Matthiessen (NSDAP- Mitgliedsnummer 92.345) zwei Monate vor Hermann Glüsing (Mitgliedsnummer 28.921) in die NSDAP eingetreten, entwickelte sich zu einem der aktivsten Mitglieder und wurde rasch mit höheren Ämtern vertraut. Zuvor war er Mitglied in Freikorps2. Seine Karriere begann er als Ortsgruppenleiter der NSDAP in Wesselburen und mit dem Eintritt in die SA. 1929 erwarb er den Auhof in Meldorf, den er bis zu seinem Tod bewohnte. Am 1.Juni wurde er NSDAP- Kreisleiter des Kreises Süderdithmarschen, im November auch Stadtverordneter in Meldorf und Kreistagsabgeordneter des Kreises Süderdithmarschen. Als Dithmarschen zusammengelegt wurde, hatte er Büros in Meldorf und Heide, war Gauredner der NSDAP, außerdem Mitglied des Kreisausschusses des Kreises Süd- Dithmarschen. Im Oktober 1931 rückte er in den Reichstag nach, dem er bis 1945 angehörte, 1933 wurde er Staatskommissar für die schleswig- holsteinische Landwirtschaft. Im Sommer 1933 drohte er dem Rechtsanwalt Dr. Otto Postel, Gauführer des Stahlhelm in Dithmarschen und späterer Landrat (13.05.1945 bis 25.02.1946 ) "Schutzhaft" an. 1935 ließ er den Meldorfer Polizisten Gustav Knopp aus dem Polizeidienst entfernen und in eine Nervenklinik einsperren. 1937 denunzierte Matthiessen den ihm missliebigen Uhrmacher Alfred Jäger aus Meldorf bei der Gauleitung und regte an, Jäger die "wunderbaren Anlagen von Dachau oder Oranienburg kennenlernen" zu lassen, wobei das "Kurgeld" von Jägers Bankkonto abgerufen werden sollte. Jäger war 1936 von SA- Männern misshandelt worden.1939 und 1945 ist er noch zweimal festgenommen worden. Er hatte sich in den Augen der Nationalsozialisten schuldig gemacht, weil er mehrfach den "deutschen Gruß" verweigert und in der Zeit nach der "Machtergreifung" NSDAP-Plakate abgerissen hatte.

Matthiessen sammelte derweil weitere Posten: Vorsitz der Siedlerfachgruppe Süder- Dithmarschen, Mitglied des Siedlungsausschusses des Reichslandbundes (Berlin), bis 1938 Landesobmann und zugleich Landeshauptabteilungsleiter II der Landesbauernschaft, sowie ehrenamtlicher Leiter der Siedlungsabteilung der Landesbauernschaft Schleswig-Holstein und Lebenslängliches Mitglied des Deutschen Reichsbauernrates (1941 aufgelöst), ferner Leiter der Landwirtschaftskammer in Kiel, kommissarischer Landesbauernführer in Westfalen und 1939 Leiter des Provinzial- bzw. Landesernährungsamtes in Münster, Bauernreferent (m.d.W.d.G.b.) bei der 53. SS- Standarte, ab Nov. 35 SS- Bewerber und Aug. 36 SS- Anwärter, bis zur Aufnahme in die SS (Mitgliedsnr. 277.130), im Oktober als SS- Mann und SS- Sturmbannführer und ehrenamtlicher SS- Führer im RuSHA mit 41 Jahren; zuletzt SS- Obersturmbannführer und SS- Standartenführer.


Abbildung 1: Aus Wikipedia: Reichskommissariat Ostland mit den Gebieten Estland, jetzt Eesti Vabariik, Lettland, nun Latvijas Republika, Litauen, heute Lietuvos Respublika und Weißruthenien, heute Respublika Belarus.


Ab 1941 war Matthiessen Abteilungsleiter Landwirtschaft und 1942 zugleich Leiter des Hauptamtes III (Wirtschaft) beim Reichskommissar Ostland Hinrich Lohses in Riga, Militärverwaltungschef im Range eines Generalmajors bei der Heeresgruppe Nord. Dabei handelte es sich um die Gebiete Estland, jetzt Eesti Vabariik, Lettland, Latvijas Republika, Litauen, heute Lietuvos Respublika und Weißruthenien, heute Respublika Belarus. Hinrich Lohse war vordem Matthiessens NSDAP- Gauleiter von Schleswig- Holstein. Somit konnte er sich unter Seinesgleichen gut aufgehoben fühlen, zumal noch Karl Eger und Emil Paulsen, auch Meldorfer, als Kommissare dort im Einsatz waren, so wie die meisten SS-, Polizei- und Wehr- machtskräfte und Kommissare aus Schleswig- Holstein waren, wie das Gegenwind Sonderheft aufdeckte.3 Er gehörte der SS zuletzt im Rang eines SS- Oberführers und dann ehrenamtlicher SS-Führer beim Stab des SS-Oberabschnitts Ostland, Oberbereichsleiter der NSDAP. Außerdem im Wirtschaftsbereich Chef der Agrarverwaltung (Chefgruppe LA im RKO), Vorsitzender des Verwaltungsrates der Landbewirtschaftungsgesellschaft Ostland GmbH. Sein Aufgabengebiet fasste Reinhard Pohl im Gegenwind Sonderheft folgendermaßen zusammen: "Effektiv war die Verwaltung allerdings hinsichtlich der Verschleppung von Zehntausenden von Menschen zur Zwangsarbeit ins "Reich" sowie bei der Erfassung und Vernichtung von "Kommunisten", "Partisanen", "Geisteskranken", Juden, Sinti und Roma - wobei unter Begriffe wie "Kommunisten" etc. auch wahllos ermordete Zivilisten gefasst wurden. Den Vollzug des Massenmordes übernahm verantwortlich die Einsatzgruppe A, ungefähr 990 Leute stark. Trotz hunderttausendfachen Mordes bestanden diese Einsatzgruppen nicht aus primitiven Mördern, von 17 Führern der Einsatzgruppe A waren 11 Juristen. Die Zivilverwaltung zwang z.B. Juden aus den Dörfern in die Ghettos der Städte, sorgte für die Registrierung und Kennzeichnung. Dabei konnte sie auf Einheiten der Wehrmacht zurückgreifen, die meist für Absperrungen und Transporte sorgten. Die Morde selbst wurden von Mitgliedern der Einsatzkommandos und ihren einheimischen Hilfsmannschaften vollzogen, auch hier häufig unterstützt von Einheiten der Wehrmacht. Die Ermordung der von der Zivilverwaltung "erfassten" Menschen geschah meist in Form von Massenerschießungen, wobei einheimische Hilfsmannschaften oder die Opfer selbst die Massengräber aushoben. Zu diesen Erschießungen meldeten sich, als Wehrmachtseinheiten die direkte Beteiligung verboten wurde, häufig auch einzelne Wehrmachtssoldaten in ihrer Freizeit. Die Massenerschießungen waren häufig von Demütigungen (Abschneiden der Bärte orthodoxer Juden, Straf exerzieren mit Besenstielen, Putzen der Straße mit Zahnbürsten) sowie Alkoholexzessen der Täter und Massenvergewaltigungen verbunden. Vom Einmarsch im Juni 1941 bis Ende Januar 1942, der Niederlage vor Moskau, töteten die deutschen Truppen im "Ostland" etwa 330.000 Juden, 8359 "Kommunisten", 1044 "Partisanen" und 1644 "Geisteskranke". Bis zum Sommer 1942 trugen alle überlebenden Juden den gelben Stern, es bestand Berufsverbot für Ärzte, Rechtsanwälte und Kaufleute, Juden war es verboten, Gehsteige zu benutzen, öffentliche Anlagen zu betreten, ebenso Kurorte, Theater, Kinos oder Schulen zu besuchen. Das Vermögen musste bei den Behörden bis auf einen Freibetrag in Höhe des ortsüblichen Unterstützungssatzes für einen Monat abgeliefert werden. Das Wohnen war nur noch in den Ghettos der Städte erlaubt.

Die erste Tötungswelle hatten ungefähr 670.000 Juden überlebt, dazu kamen im Winter 1941/42 noch 50.000 deportierte Juden aus dem Reichsgebiet, die in die Ghettos von Minsk und Riga kamen. Zuvor war das Rigaer Ghetto geräumt, die 27.800 EinwohnerInnen ermordet worden, diesem Massenmord im Wald von Bikernki wohnte Lohse persönlich bei. Die schleswig-holsteinischen Juden fanden im Rigaer Ghetto "zertrümmerte Wohnungen und Einrichtungsgegenstände voller Blutspuren vor. Während des Winters brannten leerstehende Gebäude nieder, froren Leitungen ein und wüteten unbehindert Seuchen. In den folgenden Monaten und Jahren wurden die deutschen Juden im Rigaer Getto und in den umliegenden Arbeitslagern auf eine Handvoll Überlebender dezimiert." (Raul Hilberg). Einer der wenigen Überlebenden war der Lübecker Jude Josef Katz, der seine Erinnerungen kurz nach dem Krieg weltweit veröffentlichte - nur auf Deutsch, der Sprache, in der er sie ursprünglich aufgezeichnet hatte, wurden sie erst 1988 verlegt.

Seit Dezember 1941 wurden alle Sinti und Roma im Ostland erfasst, ihre Erschießung begann allerdings erst im März 1942, weil während des strengen Frostes keine Gruben ausgehoben werden konnten. Anfang 1943 begann die zweite große Tötungswelle, der mindestens 570.000 Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen. Gleichzeitig starben mehrere hunderttausend Menschen an Hunger und Seuchen, hierzu gehörten auch täglich ungefähr 2000 Kriegsgefangene. Die letzten 100.000 Juden kamen in Konzentrationslager in Kauen, Riga- Kaiserwald, Klooga und Vaivara, sie wurden 1944 beim Heranrücken der Roten Armee liquidiert. Ab Januar 1944 war schließlich ein neues Sonderkommando unter SS- Standartenführer Paul Blobel im Reichskommissariat Ostland damit beschäftigt, die Massengräber aus den Jahren 1941 und 1942 zu öffnen, die Toten zu bergen und zu verbrennen, um Beweise zu vernichten. Die CDU- geführte schleswig- holsteinische Landesregierung fühlte sich auch nach 1949 für das "Ostland" verantwortlich. Hinrich Lohse bekam am 27.7.1951 eine großzügige Pension zugesprochen. Die meisten seiner Mitstreiter in der Ostland- Verwaltung bekamen wieder Posten in Schleswig-Holstein. Niemand wurde von einem Gericht zur Verantwortung gezogen."4 1948 verurteilte ihn ein Gericht zu zehn Jahren Haft und Vermögensentzug, aber er wurde bereits 1951 wieder aus dem Gefängnis entlassen. Lohse starb 1964.

Die Alliierten internierten Matthiessen bis 1948. 1968 ermittelte die schleswig- holsteinische Staatsanwaltschaft wegen der Massenmorde gegen die noch lebenden Spitzen im Reichskommissariat Ostland unter anderem gegen Matthiessen. Das Verfahren wurde 1971 eingestellt. In seiner Autobiographie gab Matthiessen 1980 an, von Konzentrationslagern gewusst zu haben, jedoch nicht, "wie sie geführt wurden". Die Autobiographie von Martin Matthiessen ist nach Einschätzung des Institutes für schleswig- holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) "als fundierte historische Quelle unbrauchbar". Wie man es auch zeitlich einordnet oder dreht und wendet: das Reichskommissariat Ostland ist auch als Teil der Geschichte Schleswig-Holsteins zu interpretieren (Prof. Dr. Uwe Danker).

Und damit sind die NS- Verbrechen der Gebiete direkt mit den drei Meldorfern verbunden, z.B. dem ehemaligen Leiter der Chefabteilung im Reichskommissariat und nach der Kapitulation Regierungsdirektor Karl Eger in Kiel. Diese wurden nämlich bevorzugt abkommandiert, andere warteten vergeblich auf ihre "Bewährung" im Raum Ural, weil die Weltgeschichte in Stalingrad dann eine für sie unerwartete Wendung nahm, oder wie Ernst Thälmann aus dem KZ heraus bekannt gab: "Stalin wird Hitler das Genick brechen". Die Zeitschrift Gegenwind ist sogar der Meinung, dass Norddeutsche als Belohnung ausgewählt wurden, "weil die Schleswig- Holsteiner NSDAP, wo Lohse seit 1925 Gauleiter war, bereits in den zwanziger Jahren hohe Wahlergebnisse erzielen konnte". Die Dithmarscher waren diejenigen, auf die Hitler sich voll verlassen konnte.

Darum als letzter Satz: während ein deutschtrunkenes Volk wieder ein einig Vaterland feierte, konnte der hochbetagte Matthiessen also mit 89 Jahren 1990 noch stolz und ungehindert seine Auszeichnungen bewundern: Ehrendegen der SS, SS-Zivilabzeichen (Nr. 150.207), Goldenes Ehrenzeichen der NSDAP, Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze und Silber, Kriegsverdienstkreuz II. und I.- Klasse mit Schwertern, blutbeschmierte Hemden der beiden SA- Männer Schmidt und Streibel, die zusammen mit dem Rotfrontkämpfer Stürzebecher bei einem politischen Zusammenstoß ums Leben kamen.

1Rudolf Rietzler; Kampf in der Nordmark; Das Aufkommen des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (1919 - 1928), Neumünster 1982,

2Freikorps waren Privatarmeen bzw. Terrorbanden u.a. wurden Liebknecht und Luxemburg von Freikorps Einheiten ermordet

3 Gegenwind Sonderheft „Schleswig-Holstein und die Verbrechen der Wehrmacht“, 1998

4Reinhard Pohl aus dem Gegenwind Sonderheft über die Wehrmacht