Abbildung 1: Norderstraße 1929; Foto: Landesmuseum Meldorf

Wie sah es eigentlich aus zu der Zeit?

Während wir kopfschüttelnd diesen expandierenden Holocaust studieren, kommt die Frage auf, wie sah es drumherum aus. Wie lebten die Menschen? Wo stand die Wirtschaft? Ein Abgeordneter des Provinziallandtages aus Heide- Gustav Bruhn- hat das vor 87 Jahren im Kieler Rathaus versucht zu erklären.

Aus dem Protokoll des Provinziallandtages zu Kiel vom 8. Januar 23

Anmerkung: Die Landesverwaltung hatte einen Antrag gestellt, um die hohen Schulden bezahlen zu können, einen Kredit bei der Landesbank aufzunehmen. So etwas würde heutzutage niemand mehr machen und erst recht nicht bekommen:

Abg. Bruhn1= Heide: Meine Damen und Herren! Wenn wir zur Wirtschaftslage der Provinz Stellung nehmen, so dürfen wir keineswegs von der Vorraussetzung ausgehen, dass die Wirtschafts- und Finanzlage in absehbarer Zeit und überhaupt eine andere werden wird. Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Frage des Kredits der Provinz beleuchten, so müssen wir sagen, dass auch die gesamte Wirtschaftslage in Deutschland wie in Europa im allgemeinen bergab geht. Wir können keinesfalls damit rechnen, dass wir innerhalb der nächsten Jahre eine Besserung zu erwarten haben. Die Bedingungen aber, die an diese Begebung dieser Auslandsanleihe geknüpft sind, d.h. die Verpfändung des gesamten Eigentums der Provinz sind uns vorläufig noch unbekannt, und deshalb müssen wir noch weitere Aufklärung darüber haben. Der Kredit soll auf die Zeit von 5 Jahren gewährt werden. Betrachten wir uns die angeblich in Vorbereitung befindliche Umstellung der Wirtschaft im Reichsmaßstab, dann sehen wir, dass die heutige Industrie sich mit dem Gedanken befasst, sich nach amerikanischem Muster umzustellen, was aber in  weniger als 5 Jahren nicht durchgeführt werden kann. Damit ist dann aber auch der Aufbau der Wirtschaft und der Ausbau der Leistungsfähigkeit der Kreditwirtschaft der Provinzen innerhalb dieser Zeit nicht gewährleistet, und daraus ergibt sich, dass die Kredite, wie wir sie in Form der Auslandsanleihe beschließen sollen, nicht zurückbezahlen können, und das bedeutet praktisch, dass das gesamte Eigentum der Provinz nach 5 Jahren den Amerikanern als Eigentum anheim fällt. Das bedeutet die sogenannte Dawesierung der Provinz Schleswig- Holstein. Und in den anderen Provinzen geht dieselbe Tendenz vor sich, und daher bedeutet das die Dawesierung Deutschlands. Wenn wir uns die Dawesierung Kanadas betrachten, so sehen wir, dass die Wirtschaft Kanadas, die Schulen, ja alles öffentliche Leben, unter amerikanischem Einfluss stehen. Wir sehen in Kanada genau den selben Prozess, wie wir ihn nachher in Deutschland sehen würden. Und wenn wir heute zum Straßenbau und für die Betriebe der Kommunen einen Kredit bewilligen, der von vornherein die Enteignung des kommunalen und provinziellen Eigentums bedeutet, dann muss man sich wohl überlegen, ob man diesem Unternehmen zustimmen soll oder nicht.

Jürgen Kuczynski beschreibt das im „Band 6; Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus/ unter dem Faschismus“ auf genau dieselbe drastische Weise:

„Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts tritt der Kapitalismus in allen großen Kapitalistischen Ländern in ein neues Stadium seiner Entwicklung: er wird zum Monopolkapitalismus, zum Finanzkapitalismus, zum Imperialismus. Die Prozesse der Konzentration der Produktion und des Kapitals, der engeren Verflechtung von Industrie und Banken, der Aufteilung der Welt unter die Großmächte hatten ein Stadium erreicht, in dem zahlenmäßige Veränderungen zu Wandlungen im Charakter führten, Quantität in Qualität umschlug. …

Die Konzentration der Produktion und des Kapitals, d.h. die Herausbildung ganz großer Betriebe und Gesellschaften bei gleichzeitiger Vernichtung zahlreicher kleinerer und mittlerer Werke durch Konkurrenz, hatte es dahin gebracht, dass in einzelnen Industrien, oft in den wichtigsten, eine einzelne Gesellschaft oder oft eine Gruppe von Gesellschaften Produktion, Preise und Erfindungen usw. zu beherrschen bzw. zu diktieren suchten. …

Die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Banken (Finanz) wurde so eng, dass die Leitung von Banken und Großbetrieben gewissermaßen einheitlich wurde, durchgeführt von einer kleinen Gruppe von Großkapitalisten, deren Namen wir im Aufsichtsrat sowohl von Banken als auch von Industriewerken finden, so dass wir von engster Verflechtung von Industrie und Finanz, von einer Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapitals sprechen können. Das heißt von Finanzkapital. …

Um ihre Diktatur wirksamer zu gestalten, Reaktion und Gewalt auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens ausdehnen zu können, verschmelzen die Monopole mit dem Staat zum Staatsmonopolistischen Kapitalismus, zu einer gigantischen Maschine der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen.“

1Der Abgeordnete Bruhn war der Heider KPD- Vorsitzende Gustav Bruhn, beschrieben in Georg Gerchens Broschüre „Vom Heider Marktplatz zum KZ- Neuengamme.“